© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/01 16. Februar 2001

 
Der Ort ihrer Verbannung war das Nichts
Das französische Parlament erkennt die türkische Massentötung der Armenier vor 85 Jahren als Völkermord an
Rolf Helfert

Vor wenigen Tagen beschloß das französische Parlament, die Armenier-Massaker in der Türkei vom Anfang des 20. Jahrhunderts als Völkermord anzuerkennen. Die türkische Regierung, daraufhin erbost, drohte, Sanktionen gegen Frankreich zu verhängen. Was ist der historische Hintergrund des Streites zwischen Paris und Ankara? Beging der türkische Staat tatsächlich Völkermord?

Seinerzeit spürte man bis nach Mitteleuropa die Nachbeben des Geschehens in der Türkei. Vor achtzig Jahren, am 15. März 1921, erschoß der armenische Student Salomon Teilirian in der Berliner Hardenbergstraße einen Mann namens Talaat Pascha, vormals Großwesir und Innenminister der Türkei. Passanten schlugen Teilirian beinahe tot, bevor sie ihn der Polizei übergaben. Auf den Armenier schien nun der Henker zu warten. Doch das Berliner Schwurgericht sprach ihn frei! Die Schuld treffe das Opfer, sagte der Richter. In der deutschen Justizgeschichte, zumal der der Weimarer Republik, bedeutet dieses Urteil geradezu eine Sensation.

Das Gericht hielt Teilirian zugute, daß der türkische Staat 1915 seine Familie ermordet hatte. Nur dank eines extremen Zufalls war der spätere Attentäter selbst einem Massaker entgangen. Die Türken hatten ihn, der schwerverletzt unter Leichen lag, für tot gehalten.

Unter der Mitverantwortung Talaat Paschas fanden im Ersten Weltkrieg, wie eine Berliner Zeitung nach dem Attentat schrieb, "jene blutigen Armeniermetzeleien und zwangsweise Vertreibung der Bevölkerung ganzer Landstriche statt, vor deren Übertreibung die deutsche Regierung wiederholt gewarnt" habe. Die Türkei stand zwischen 1914 und 1918 an der Seite des Deutschen Reiches.

Lange hatten die christlichen Armenier – unterdrückt, aber nicht existentiell bedroht – im türkisch-osmanischen Reich gelebt. Das änderte sich seit der Mitte des 19. Jahrhundert, als das Türken-Imperium immer stärker dahinschmolz. Die osmanischen Herrscher setzten alles daran, den Abfall weiterer Territorien zu verhindern. Besonders mißtrauisch beäugte die Pforte drei Millionen Armenier, die nicht nur wegen ihrer Religion störten, sondern auch deshalb, weil sie partiell mit Rußland sympathisierten. Teile Armeniens gehörten zu Rußland und Persien.

Um der Gefahr ausländischer Interventionen vorzubeugen, gewährten die Sultane zunächst allen Volksgruppen des Reiches formelle Gleichberechtigung. De facto besserte dies die Lage der Armenier nicht. Schon 1867 erklärte der damalige türkische Großwesir: "Wenn es den Armeniern in unseren Provinzen nicht gefällt, dann sollen sie eben das Land verlassen. Wir werden es mit Zirkassiern bevölkern."

Sultan Abdul Hamid II., der von 1876 bis 1909 regierte, war entschlossen, die Armenierfrage gewaltsam zu lösen. Rußland führte 1877/78 gegen die Türkei Krieg mit der Begründung, die Christen, welche unter dem Halbmond lebten, schützen zu wollen. Zwar siegte Rußland, doch mußte es aufgrund der Beschlüsse des Berliner Kongresses seine Eroberungen, vor allem armenisches Gebiet, größtenteils wieder abgeben. Bereits in diesem Krieg hatten Türken und Kurden Greueltaten an Armeniern verübt.

Nach außen tat Abdul Hamid, als sei er bereit, in der armenischen Frage Milde walten zu lassen, doch sah die Realität völlig anders aus. Durch überhöhte Steuern ruinierte er die wirtschaftliche Basis der Armenier. Seit den frühen neunziger Jahren verließen ständig mehr Armenier das Land.

Etliche europäische Großmächte wollten derweil den "kranken Mann am Bosporus" unter sich aufteilen. Berlin hingegen bemühte sich darum, die Türkei zu stabilisieren. Deutsche Offiziere modernisierten das türkische Heer, und nach Bagdad wurde eine Eisenbahn gebaut. Dabei spielten aber nur außenpolitische Gesichtspunkte eine Rolle. Keinesfalls dachte die Reichsleitung daran, den Türken einen Freibrief hinsichtlich der Armenier zu verleihen.

1895/96 organisierte die türkische Regierung erste systematische Armenier-Massaker. Etwa 100.000 Personen verloren dabei ihr Leben. In einer offiziellen Anweisung hieß es: "Alle Kinder Mohammeds müssen jetzt ihre Pflicht tun, alle Armenier töten, ihre Häuser plündern und niederbrennen."

Der Genozid an Armeniern setzte sich bis 1923 fort

Am Beginn des 20. Jahrhunderts versuchte die Bewegung der "Jungtürken", das osmanische Reich zu erneuern. Abdul Hamid wurde 1908 gezwungen, eine Verfassung zu gewähren, die den Nationalitäten und Religionen Gleichberechtigung versprach. Im April 1909 versuchte jedoch Abdul Hamid, die Jungtürken gewaltsam zu entfernen. Mehrere von ihnen fanden Zuflucht bei Armeniern. Daraufhin entfesselte der Sultan Pogrome, denen zehntausende Armenier zum Opfer fielen, bis es den Jungtürken gelang, Abdul Hamid zu stürzen. Mit Blick auf jene Massaker entstand der Begriff "Holocaust", den der Brite Duckett Z. Ferriman 1913 erstmals verwendete.

Ende 1914 schloß die Türkei, vermittelt durch Talaat Pascha, ein Kriegsbündnis mit Deutschland. Wenige Monate später mißlang eine türkische Offensive unter der Führung Enver Paschas gegen das Zarenreich. Nun argwöhnt die türkische Führung, daß sich die 1,5 Millionen Armenier, die noch in der Türkei leben, Rußland anschließen könnten und befahl deren Ausrottung. Eine Spezialtruppe, die "Cete", wurde formiert, die das Mordprogramm realisierte. Bronsart von Schellendorf, der deutsche Chef des türkischen Generalstabs, welcher verlangte, die Armenier nicht zu töten, sondern nach Rußland zu deportieren, fand kein Gehör.

Alle Armenier, die im türkischen Heer dienten, wurden handstreichartig entwaffnet und umgebracht. In Konstantinopel metzelten Mordkommandos die Führungsschicht der Armenier nieder, etwa 2.000 Personen. Nach diesen "Enthauptungsschlägen" vernichteten Türken und Kurden in sieben anatolischen Provinzen nahezu die gesamte armenische Bevölkerung. Entweder tötete man die Armenier an Ort und Stelle oder man schickte sie auf Todesmärsche, die fast niemand überlebte.

Die türkische Regierung koordinierte das Geschehen. Innenminister Talaat Pascha befahl Ende 1915 der Präfektur in Aleppo: "Rotten Sie mit geheimen Mitteln jeden Armenier der östlichen Provinzen aus, den Sie in ihrem Gebiet finden sollten." Kein Armenier dürfe ins Ausland entkommen. "Der Ort der Verbannung derartiger Unruhestifter ist das Nichts." Insgesamt fanden 1,5 Millionen Armenier den Tod. Türkisch-Armenien existierte nicht mehr.

Deutschland hat die Armenier-Massaker ausdrücklich nicht gewollt. Die Alleinverantwortung hierfür trägt der türkische Staat. Notgedrungen verschwieg die Reichsregierung den Untergang der Armenier, weil der Verbündete nicht entlarvt werden sollte. In einer amtlichen Presseanweisung vom Oktober 1915 hieß es: "Über die Armeniergreuel ist folgendes zu sagen: Unsere freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei dürften durch diese innertürkische Verwaltungsangelegenheit nicht nur nicht gefährdet, sondern nicht einmal geprüft werden. Deshalb ist es einstweilen Pflicht zu schweigen."

Nach Kriegsende setzte die Türkei, unter republikanischen Vorzeichen, den Genozid fort. Türkisches Militär verhinderte die Bildung eines unabhängigen armenischen Staates, der aufgrund internationaler Abkommen hatte entstehen sollen. Die letzten Untaten datieren aus dem Jahr 1923.

Talaat Pascha stand auf der Kriegsverbrecherliste der Alliierten. Deutschland gewährte ihm Asyl. Bis heute behauptet jede türkische Regierung, daß es keine Armeniermorde gegeben habe. Wer in der Türkei etwas anderes sagt, kann immer noch zu einer Haftstrafe verurteilt werden.


 
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