© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/01 19. Januar 2001

 
Preußen – das mißbrauchte Symbol
von Alexander Barti

Der moderne Kulturbetrieb gleicht immer mehr einer Orangensaftpresse: Die reife Frucht wird im Hauruckverfahren schnell und restlos ausgequetscht, und was dann noch übrigbleibt, landet im Mülleimer. Zurück bleibt das Schale. Erinnern wir uns: Was im Brecht-Jahr letztlich zum Brecht-Reiz führte, wird im Preußenjahr ähnliche Reflexe auslösen. Vielleicht ist der Widerwille, mit dem man dann auf die vergangenen Monate zurückblickt, zumal beim Thema Preußen, beabsichtigt.

Das vor uns liegende Jahr wird dabei ein stetes Auf und Ab von Lobgesang und Verdammung bieten: Gleich zu Anfang, am 18. Januar, der Stiftungstag, gediegende Atmosphäre und salbungsvolle Worte. Ein harmloses Erinnern in geschichtsträchtiger Architektur. Im Vorfeld kamen sogar differenzierte Anmerkungen aus dem vergreisten Bundespräsidialamt. Weiter. Spätestens am 8. Mai mahnende Worte, wohin diese Tugenden führen können. Vielleicht profiliert sich auch wieder der "Oskar aus Saarbrücken", indem er über die Sekundärtugenden schimpft, mit denen man auch Straf-, Konzentra-tions- und sonstige Lager einrichten und betreiben könne.

Am 20. Juli Gedenken an den "Aufstand der Anständigen". Daß diese Anständigen mit Sicherheit keinen Staat á la BRD haben wollten, wird natürlich ausgeblendet. Sie, die Stauffenbergs & Co. waren im besten Sinne Vertreter eines Kriegeradels – mit Demokratie hatten sie eher weniger am Hut. Und so wären sie spätestens im vergangenen Sommer 2000 ins Fadenkreuz der Staatspolizei gekommen. Aber darum geht es nicht. Das eigentliche Problem ist der perfide Mißbrauch und die meistens einseitige Zitation der sogenannten "Preußischen Tugenden". Am meisten wird übersehen, daß man ein Staatsgebilde nicht nur nach seiner Funktion, sondern auch nach seiner Ausrichtung beurteilen muß. Es reicht nicht aus, die Ruhe und Ordnung, den Wohlstand oder die Freiheit zu bewerten; Mensch-
sein ist kein Selbstzweck.

In den ersten Jahrzehnten konnte die Bonner Republik wenig anfangen mit Preußen und seinen verbotenen Werten. Das war nicht sonderlich tragisch, weil die Eliten in hohem Maße von den Ordnungsprinzipien angereichert waren. Sie, die Prinzipien, strahlten sozusagen von selbst in den politischen Raum. Ein erster gravierender Mißbrauch des "Preußentums" geschah Jahre vorher, als "die Rache Österreichs für Königgrätz" in Berlin die Macht übernahm. Die Ehre, die man in Treue zu einem höheren Prinzip erlangte, wurde von den Nationalsozialisten nach unten nivelliert: statt Gott und König galt die Treue fortan für Boden und Blut. Der freie Fall ist eindeutig: eine metaphysische Qualität, nämlich der König aus Gottes Gnaden, kondensiert als Herrschaft aus dem Willen des Volkes; der Geist wird abgelöst durch die Genetik.

Der Sturz in die Hölle könnte nicht dramatischer sein. Daß die preußischen Eliten diesen radikalen Paradigmenwechsel nicht sofort erkannt und verhindert haben, ist ihre eigentliche Tragik. Aber genau genommen war das Versagen der Junker schon in dem Gründungsmoment des Königreiches angelegt: wo in der abendländischen Geschichte gibt es bedeutende Königreiche, die durch autonome, und noch dazu rein menschliche, Selbtsbetimmung entstehen? Ein Kurfürst, der nach Ostpreußen fährt, um sich dort selbst die Krone aufs Haupt zu setzten! Kein Wunder also, daß die anderen Dynastien zumindest gespottet haben über diesen Parvenü im märkischem Sand. Sicher, nach der selbstherrlichen Krönung zu Königsberg erhielt der frischgebackene Monarch auch noch die Salbung von einem Religionsdiener, aber das dürfte eher pro forma geschehen sein, denn die Sekularisation war schon im vollen Gange.

Damit kommen wir zu einem weiteren Mißgriff von dem, was "Preußen" symbolisiert: die Toleranz. Heute ist der Satz von der Fasson, nach der jeder selbst entscheiden soll, wie er selig werden möchte, in aller Munde. Friedrich der Große hatte diesen Satz eher achtlos an den Rand einer Aktenseite gekritzelt und damit die Nachwelt der Gutmenschen mit einer trefflichen Munition versorgt. All diejenigen, die Preußen nicht kategorisch als Keimzelle des deutschen Militarismus ablehnen, können dank dieser Notiz in einer verbalen Endlosschleife auf die tolerante Einwanderungspolitik des Königreiches hinweisen; sogar den Muselmanen, so heißt es in der Notiz weiter, werde er, Friedrich II., Moscheen bauen, wenn sie kämen. Mittlerweile ist klar, daß sie nicht nur kamen, sondern auch ohne Erlaubnis des Königs emsig bauen. Daß Fritzi nicht nur Rechte verteilt, sondern auch Pflichten eingefordert hat, wird heute nicht mehr so laut zitiert. Dennoch: Pflicht und Gehorsam sind auch heute eine Selbstverständlichkeit. Besonders die sogenannten Konservativen im Lande gehen fehl mit ihrem Lamento, heute gäbe es kein Pflichtbewußtsein mehr. Die vergangenen Monate haben besonders deutlich gezeigt, mit welchem Eifer – Pflichtbewußtsein! – Personen und ganze Städte als staatsfeindlich entlarvt wurden. Natürlich wurde es auch in Preußen für jeden ungemütlich, der gegen die Monarchie opponieren wollte. Schädlinge müssen bekämpft werden, das war schon immer so. Heute hat man allerdings raffiniertere Methoden als damals: wie primitiv ist doch der leibhaftige Pranger! Da steht man nun und wird allenfalls von den BürgerInnen und UntertanInnen gesehen (bespuckt und verspottet), die zufällig dort vorbeigehen. Im "Netz gegen Rechts" ist der Pranger potentiell auf jeder Mattscheibe – auf der ganzen Welt. Mit dem Gehorsam ist es auch nicht so schlecht bestellt. Der 9. November letzten Jahres war ein beeindruckendes Beispiel für die Ergebenheit der staatlichen Angestellten. Per Order wurde darauf hingewiesen, daß zum Zeitpunkt der Großen Novemberdemonstation für (preußische?) Toleranz Sitzungen und ähnliches zu unterlassen seien. Und wie da gehorcht wurde! Sogar die Privatwirtschaft zeigte sich ergeben und stellte den Betrieb ein. So konnte die Staatsraison deutlich vermittelt werden: Keine Handbreit der deutschen Leitkultur! Damit sind wir aber schon wieder mitten im alten Preußen.

Deutschland und Preußen? Schon der Name klingt verdächtig fremd und ist es auch. Preußen kommt bekanntlich von Pruzzen, und das war ein slawischer Volksstamm mit heidnischem Kult. Die Pruzzen gab es schon vor 300 Jahren nicht mehr, aber ihr Name hat überlebt. Und der soll nun das Deutsche schlechthin kennzeichnen? Nicht erst seit der zweiten Reichsgründung weiß man, daß die preußischen Könige nicht die beste Meinung von einem einig deutschem Vaterland hatten. Zu welchem Volk die Untertanen gehören, war schon immer egal – Hauptsache, sie waren wirtschaftlich zu verwerten. Hugenotten, Juden, Calvinisten, alles tüchtige Menschen, wieso sollten sie also nicht einwandern und sich voll entfalten können? Heute sind es eben andere Völkerschaften aus ferneren Ländern. Vielleicht haben die Neubürger auch andere Motive als damals, aber wer will sich schon mit solchen Nebensächlichkeiten abgeben.

Sicherlich hat die Bundesrepublik die Idee der preußischen Einwanderungspolitik aufs trefflichste übernommen. Allerdings gibt es heute zwei gravierende Unterschiede zu damals: Erstens ist es eng geworden in deutschen Landen; die ad hoc-Gründung von Städten und Dörfern in dünn besiedelten Gebieten funktioniert nicht mehr, und auch das Landmeer im ferneren Osten hat an Attraktivität verloren. Zweitens hat die einheimische Kultur, die "deutsch-preußische", dramatisch an Integrationskraft verloren. Die Zuwanderer mit fremdländischen Familiennamen werden nicht mehr innerhalb von wenigen Generationen die treuen Friedrichs, Wilhelms und Gottfrieds; die Seligkeit nach "eigener Fasson" hat die Gotteshäuser längst verlassen. Besonders deutlich sieht man das – welch feine Ironie des Schicksals – in der ehemaligen preußischen Residenzstadt Berlin.

Aber nochmal und immer wieder zurück zu den "preußischen Tugenden". Es gibt keinen Grund dafür, daß die Disziplin, die Bescheidenheit oder Mäßigung den Preußen überlassen wird. Man lese die vier Kardinaltugenden des Hl. Augustinus und man wird sehen, woher die Grundsubstanz des "Berliner Reiches" gekommen ist. Und wem das Christentum, zumal das katholische, zu anrüchig ist, der kann auch in dem Ehrenkodex der Samurai blättern, und er wird Passagen finden, die einem Soldatenkönig wohl angestanden hätten. Vielleicht ist es kein Zufall, daß Tsunetomo Yamamoto den Samurai-Kodex Hagakure in den Jahren 1710 bis 1716 seinem Schreiber diktiert hatte. Just in den Jahren, in denen die Armee der Langen Kerls aufgestellt wurde. Oder man schaue in die zeitlose Dichtung der Veden: die Grundlage der indo-arischen Kultur hat das Preußenideal in den Lebensregeln der Kshatriya, der Kriegerkaste, fixiert. Dabei sollte man nicht übersehen, daß die Kaste der Krieger ist nicht die erste und damit höchste ist; über ihr steht die der Brahmanen. Sie sind die Priester, die durch ein Ritual der Initiation direkten Zugang zur Überwelt bekommen haben; sie wachen über die Gesetze des Himmels, und ihre Ordnung ist es, die von den Rittern verteidigt werden muß. In dieser Staats- und Lebensordnung klingt nicht nur Platons Konzept vom Philosophenkönig an. Sicherlich sah sich auch der große Friedrich in der Rolle eines Weisen auf dem Throne. Sein aktives Bekenntnis zur Freimaurerei zielt in diese Richtung.

In Preußen flackerte nochmal, vielleicht das letzte Mal in der Neuzeit, eine militante Qualität auf, die im besten Sinne universell in einem Teil der Menschheit angelegt ist. Allerdings kann man schon in diesem letzten Aufbäumen der "übermenschlichen" Tugenden im Rahmen des Preußischen Königreiches einen deutlichen Niveauabfall erkennen.

Am deutlichsten zu sehen an der Gleichgültigkeit, mit der Friedrich II. über die metaphysische Ausrichtung seiner Untertanen gesprochen hat. Wem die Religion reine Privatsache ist, der legt ein beredtes Zeugnis über seinen Materialismus ab. Vor allem das bedeutet die Religionsfreiheit. Damit wird aber schlagartig klar, wieso Preußen auch heute noch so gut verwertet werden kann: es besteht kein prinzipieller Widerspruch zwischen der "Verkürzung" des Kanzlereides 1998 und dem "Jeder-nach-seiner-Fasson-selig-Werden" im 18. Jahrhundert. Was in beiden Fällen zählt, ist die Loyalität zu einem Staatswesen, das nurmehr reiner Selbstzweck geworden ist.

Ein fundamentaler Fehler des aufgeklärten Preußentums besteht in dem Mangel an geistiger Unterscheidungsfähigkeit: denn Geistigkeit ist nicht per se die Erkenntnis des Übernatürlichen und damit die Erkenntnis der Ordnung. Wenn Friedrich der Große als Freimaurer glaubte, einer universalen Wahrheit zu dienen, dann lag er nur insofern richtig, als daß er sich in den Dienst der Materie gestellt hat. Auch wenn er die Existenz Gottes nie leugnete.

In welche Sackgassen so manche "Weisheit" bzw. Staatsraison führen kann, sollten gerade die Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts sehen. Aber anstatt die Aufklärung mit einer gehörigen Portion Abklärung zu verdünnen, treiben die Erlösungstheorien weiter wilde Blüten. Man könnte meinen, es gäbe nur die Wahl zwischen technokratischen Rationalismus und esoterischem Wirrsinn.

Der Kampf um die Konkursmasse Preußen ist letztlich nur ein Scheingefecht, da beide Parteien die grundsätzliche Ausrichtung Preußens nicht in Frage stellen. Die Gegner übersehen in einer erstaunlichen Naivität, daß der preußische Staat nicht nur ein Geschöpf der Moderne gewesen ist, sondern der Moderne selbst kräftig Schub gegeben hat. Und die Befürworter übersehen ebenso naiv, daß der "künstliche Staat" nur in der romantischen Retrospektive die Heimeligkeit eines befriedeten Konservativismus zu bieten hatte.

Was bringt uns Preußen also heute? Es ist sicherlich unbefriedigend, in einem schier ewigen Gemecker auf die Stärken und Schwächen eines untergegangenen Staatswesens hinzuweisen. Ebenso traurig mutet der Versuch an, Preußen als Bundesland wieder auferstehen zu lassen; da könnte sich der Arbeiter im Kanzleramt gleich selbst adeln, auch das wäre eine preußische Tradition. Richtiger wäre es, Preußen als eine Station in der Entwicklung der neueren Geschichte zu betrachten. Nicht mehr und nicht weniger. Die Tugenden aber, die heute plakativ als die preußischen gelten, haben nur dann einen Sinn, wenn sie verinnerlicht werden, um mehr zu erreichen als "Wohlstand für alle".

Preußische Tugenden als Standortvorteil? Appellieren vielleicht gerade deswegen die Anarchisten von einst an die Auferstehung des preußischen Gewissens? Wenn das Credo Preußens die militärisch-merkantile Leistungsbereitschaft war, dann kann sich die Bundesrepublik zumindest teilweise als echten Enkel des Aufgelösten sehen.

Wenn wir Preußen verehren, aber in der geistigen Horizontalen verharren, bleibt das Rüstzeug, wie man die Tugenden auch nennen kann, wertlos und manipulierbar. Dann hat man recht mit der Erkenntnis, daß sie dem sekundären Bereich zuzuordnen sind. Der Nutzen der Tugenden beschränkt sich dann auf die zuverlässige Projektabwicklung von "Shoppingcenters" und "Cityplazas". Und Preußen bleibt sklerotische Tradition – ein mißbrauchtes Symbol.

 

Alexander Barti, 29, ist Politologe und unterrichtet als Robert-Bosch-Lektor an der Universität Veszprém/Ungarn.


 
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