© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/01 19. Januar 2001

 
Vom Alleinherrscher zum Alleinschuldigen
Henrik Eberle: Anmerkungen zu Honecker
Doris Neujahr

Der Titel "Anmerkungen zu Honecker" verweist natürlich auf Sebastian Haffners "Anmerkungen zu Hitler", und der Klappentext, der ausdrücklich eine "sachliche Neubewertung" der "Leistungen und Erfolge" sowie der "Fehler und Irrtümer des Generalsekretärs und Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker" verspricht, unterstreicht den kühnen Anspruch. Haffner allerdings, als er seine verblüffenden wie luziden Einsichten in die Wirkungen Hitlers niederschrieb, konnte von einem anhaltenden Interesse an dieser Inkarnation des Bösen und einer ausgedehnten Forschungsliteratur ausgehen. Wofür aber steht der mausgraue Honecker? Zwar sind die Ämter, die er bekleidet hat, hinlänglich bekannt, und man weiß auch, daß er zu den maßgeblichen Organisatoren des Mauerbaus gehörte. Im kollektiven Gedächtnis hat sich jedoch, wenige Jahre nach seinem Tod, das Jammerbild des verwirrten Greises auf der Anklageband festgesetzt, mit dem man wider Willen Mitleid empfand. Und seit 1989 wurden wohl zahlreiche Interviews, Erinnerungen und Untersuchungen zu Aspekten seines Lebens und seiner Regentschaft publiziert, oft aus der Schlüssellochperspektive, zum Zwecke der Abrechnung, Entlarvung oder Selbstentlastung, aber noch keine wissenschaftliche, zusammenhängende Biographie.

Die versucht der junge Historiker Hendrik Eberle in den drei ersten Kapiteln – "Aufstieg", "Oben", "Absturz" – erst einmal nachzureichen. Honecker wurde 1912 in einer saarländischen Bergarbeiterfamilie geboren, begann zeitig eine Funktionärslaufbahn im Kommunistischen Jugendverband und wurde zur Schulung nach Moskau delegiert. Seine illegale Arbeit gegen das NS-Regime bezahlte er ab 1935 mit einer zehnjährigen Zuchthausstrafe. Nach dem Krieg wurde er FDJ-Chef und stieg 1950 ins SED-Politbüro auf, wo er zu den Hardlinern gehörte. Während der "Weltfestspiele der Jugend und Studenten" 1951 in Ost-Berlin ordnete er einen FDJ-Marsch in den Westteil an und tönte, als die Polizei einschritt: "Wer junge Friedenskämpfer in die Kerker wirft, der darf sich eines Tages nicht darüber beschweren, wenn er am Galgen oder im Gefängnis endet." Im Politbüro war er für Sicherheitsfragen und damit direkt für die Planung der Mauer zuständig. 1965 legte er bei der Strangulation der Reformversuche in Wirtschaft und Kultur aktiv Hand an. Schlau, rücksichtslos und in enger Abstimmung mit der Moskauer Führung, bootete er alle Konkurrenten aus, schließlich auch seinen langjährigen Förderer Walter Ulbricht, den er 1971 als Parteichef beerbte. 1974 trat er offiziell auch an die Staatsspitze. Seine Macht fand damit nur noch ihre Grenze, wo die Sowjetunion eigene Interessen berührt sah. Es war sinnfällig, daß sein Sturz und der Kollaps der DDR so nahe beieinander lagen. Er selbst konnte sich dieses ruhmlose Ende nur mit feindlicher Ranküne und Verrat erklären. Für die fehlende Legitimität seiner und der SED-Herrschaft blieb er blind bis zum Schluß.

Eberle hat alle Informationen und Dokumente, die vor und nach 1989 über Honecker bekannt geworden sind, gesichtet, geordnet und durch eigene Archivstudien und Befragungen ergänzt. Leider ist ihm das Buch sowohl im biographischen als auch im theoretischen, dem eigentlichen "Anmerkungs"-Teil, in dem er unter anderem Honeckers "Herrschaftstechnik" und "Ideologie" darstellen wollte, zu atemlos und oberflächlich geraten. Er überschüttet den Leser mit Fakten und versäumt es dann, ihre politische, soziologische, ideengeschichtliche Essenz herauszuarbeiten. Die Konturen des Privatmannes und des Politikers bleiben blaß, Honeckers politisches Ethos unklar. Was bedeutete es für den 23jährigen, zehn Jahre lang, also sein gesamtes junges Erwachsenenleben, ins Zuchthaus gesperrt zu werden? Welche Traumata und hybriden Sendungsphantasien ergaben sich daraus, und in welcher Weise beeinflußten sie sein politisches Handeln? Für solche Reflexionen fehlt es Eberle an psychologischer und narrativer Einfühlung, andere sind durch die aktuelle DDR-Forschung bereits überholt.

Honecker wurde in weiten Teilen der DDR-Bevölkerung "Honi" genannt, worin neben Ironie auch eine "plumpe Vertraulichkeit" (Stefan Wolle) lag. Mit seiner habituellen und verbalen Unsicherheit, die seine öffentlichen Auftritte für den Fernsehzuschauer zur Qual machte, der Vorliebe für das plebejische Liedgut der frühen Arbeiterbewegung, aber auch mit der Sehnsucht nach dem Westpaket – seine Oberhemden ließ er am Ku’damm kaufen – und dem Unverständnis für jede individualistische Regung in der Kultur- und Jugendszene der DDR, gegen die er schon mal das "gesunde Volksempfinden" in Stellung brachte, war er die Personifizierung "einer Gesellschaft, in der Arbeiter und rangniedrige Angestellte sozial und kulturell den Ton angaben" (Wolfgang Engler). Das macht ihn nicht sympathischer, erklärt aber wesentlich die relative Stabilität seiner Herrschaft.

Der "Personenkult" um Honecker wird hier lediglich als ein Wechselspiel zwischen der persönlichen Eitelkeit des Generalsekretärs und der Devotheit der Untergebenen dargestellt. Doch die Mystifizierung des obersten Repräsentanten ist ein Strukturelement der ideologisch fundierten Diktaturen. Die subalternen Funktionäre bis in die höchsten Führungsetagen hinein können so die Verantwortlichkeit für ihr Tun "nach oben" delegieren. Indem der in die Wolke der Unangreifbarkeit und des Geheimnisses gehüllte Spitzenmann die Erklärungen für alle Handlungen des Staates monopolisiert, wird nach innen und außen die Illusion erweckt, daß sich die vielen irrationalen Einzelentscheidungen doch noch irgendwo zu einer rationalen – hier: sozialistischen – Gesamtstrategie zusammenfügen.

Als Honecker wegen Gorbatschows Perestroika die Abkoppelung von der Sowjetunion betrieb, die er zuvor stets als Vormacht und Bollwerk des Weltsozialismus gefeiert hatte, kam das ideologische Fundament, auf dem dieses Konstrukt beruhte, ins Rutschen. Mit seinem Starrsinn stand er nur noch für sich selbst. Aus dem hofierten Alleinherrscher wurde über Nacht der Alleinschuldige. Heiner Müller notierte im Januar 1990: "Im Fernsehen die Verhaftung Erich Honeckers nach der Krebsoperation am Tor der Charité. Ein alter Mann, gezeichnet von sechzehn Jahre Macht, die seinen Verstand überfordert und seinen Charakter, ausgehöhlt von zehn Jahren Haft im Zuchthaus Brandenburg, zermürbt hat, trauriger Beleg von Jüngers These von der wachsenden Disproportion zwischen dem Format der Akteure und ihrem Aktionsradius in der neueren Geschichte, von seinen Kreaturen jetzt dem Volkszorn als Sündenbock präsentiert. (Inzwischen hat ihn die Kirche aufgenommen, eine alte Macht, die nur noch nach den Seelen greift, nicht mehr nach den Körpern.)"

Sebastian Haffners Anmerkungen zur Persönlichkeit Hitlers eröffnen immer auch interessante Perspektiven auf politische Strukturen, auf die Ideologie- und Zeitgeschichte. In diesen Bereich dringt Eberle kaum einmal vor. Er hätte bei der Titelwahl und seinem Konzeptentwurf einfach bescheidener sein sollen. Immerhin hat er eine erste Ordnung in die zerstreute Honecker-Literatur gebracht, und wer sich für den Werdegang des langjährigen Staats- und Parteichefs interessiert, ist mit diesem Buch fürs erste durchaus bedient.

 

Henrik Eberle: Anmerkungen zu Honecker. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2000, 315 Seiten, zahlr. s/w-Abb., Pb. 24,80 Mark


 
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