© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/01 19. Januar 2001

 
Abschied von der Metaphysik
Klonen: Über den inflationären Gebrauch des dehnbaren Begriffs "Menschenwürde"
Klaus Kunze

Was hat eine Lilienblüte mit einem Menschen-Einzeller im Genlabor und BSE-Prionen im Rinderhirn gemeinsam? – Nach Überzeugung aller Metaphysiker ist es eine "Ausstrahlung". Baldur Springmann hielt mir 1999 in dieser Zeitung entgegen, von der "metaphysischen Ausstrahlung einer Lilienblüte" nichts zu verstehen. Tatsächlich gibt es Liebhaber esoterischer Ausstrahlungen wie auch solche Menschen, für die Blüten nur ästhetische Bedeutung besitzen und Rinder allenfalls kulinarische. Wo der eine Heiligenscheine zu sehen glaubt, wittert der andere nur heiligen Schein. Für solche Ungläubigen ist einer der über fünf Milliarden Menschen so profan wie eine Zellkultur unter dem Mikroskop, aus der sich einmal ein Mensch entwickeln könnte, vielleicht aber nur ein Ersatzorgan für einen Todkranken.

Tony Blair und Gerhard Schröder scheinen nüchtern denkende Politiker und keine esoterischen Träumer zu sein: Der eine brachte erstmals eine Lizenz zum Klonen durch sein englisches Parlament – der Zukunftsmärkte wegen –, und sein deutscher Kollege zeigte sofort denselben Pragmatismus. Freilich hat er in Deutschland gegen den Widerstand der hier traditionell starken Ideologen anzukämpfen. Während die westliche Wertegemeinschaft in Holland die Euthanasie und in England das Klonen freigibt, ist man hier von britischem Pragmatismus und holländischer Liberalität weit entfernt, denn Deutsche müssen aus allem eine Grundsatzfrage machen.

Nicht westlich-werteliberal, sondern östlich-kontinental geht Deutschland seinen Sonderweg. Als etwas zurückgebliebene Hilfsschüler der Aufklärung glauben viele deutsche Intellektuelle noch an die Realität platonischer Ideen, die angeblich in einer transzendenten Sphäre jenseits des Himmels schweben, statt mit den Engländern Ockham und Hobbes und den Holländern Erasmus und Spinoza durchzublicken: Was unter Menschen als Recht und Unrecht gilt, ist Ansichtssache, es beruht auf Konventionen und letztlich auf gesetzgeberischer Anordnung. Deutsche Frauen fuhren vor der Änderung des Paragraphen 218 jahrelang nach Holland zur Abtreibung: Werden deutsche Schwerkranke dereinst nach England reisen müssen, um sich dort eine Ersatzniere klonen und einsetzen zu lassen? Werden sie danach in Deutschland eingesperrt als Anstifter oder Mittäter strafbaren "Menschenklonens"? Wenn damals "Mein Bauch gehört mir" galt, soll künftig noch nicht einmal eine meiner einzelnen Zellen mir gehören?

Niemals werden gläubige Christen einverstanden sein können, werdendes Leben im Mutterleib zu töten. "Du sollst nicht töten" ist deutlich genug. Gemeint ist aber nur: nicht Menschen töten. Daß der alttestamentarische Gott das Schlachten von Tieren verbieten wollte, behauptete Moses nicht, und daß er an geklonte Nieren dachte, wäre wohl zuviel Spekulation. Auch kein Christ kann ernsthaft zu wissen behaupten, wie sein Gott über Gentechnik denkt.

Um derlei theologischer oder moralischer Priesterherrschaft zu entgehen, haben wir einen säkularen Staat, der uns kraft demokratischer Legitimation sagt, was verboten und was erlaubt ist. Um demokratisch legitimiert zu sein, muß eine staatliche Entscheidung auf freier, öffentlicher Diskussion beruhen, ohne Tabus und Beschränkung auf das politisch als korrekt Erlaubte. Das Volk herrscht souverän über seine Gesetze, die es sich gibt. Die Macht des demokratischen Rechtsstaates bricht sich erst bei der Gewissensfreiheit des Einzelnen: Wie schon Hobbes wußte, muß kein Bürger an die Gesetze glauben, wenn er sie nur beachtet. Das a"im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen" – so lautet die gesetzliche Präambel – gemachte Grundgesetz verpflichtet niemanden, vor dem Thron anzubeten, auf den Priester Gott setzten und andere Ideologen den Menschen an sich. Wo immer staatliche Gesetze auf letztlich religiösem Glauben beruhen, muß sich jeder an den Gesetzesbefehl halten, aber niemand seine moralischen Implikationen glauben.

So muß auch niemand vor der metaphysischen Ausstrahlung seines Nierenklons in Ehrfurcht erstarren oder einem menschlichen Einzeller auf einem Objektträger Menschenwürde beimessen. Der inflationäre Gebrauch dieses Wortes verdunkelt seinen Sinn: Der Staat darf keiner Person ihre Würde nehmen, darum geht es. Die "unveräußerliche Menschenwürde" hindert aber niemanden, sich nach übermäßigem Alkoholkonsum unwürdig zu übergeben, und sie hindert nicht an der Züchtung einer Ersatzniere.

Aus böser historischer Erfahrung wollen wir keine staatlichen Eingriffe in die menschliche Persönlichkeit: keine Folter, keine Gehirnwäsche, keine Umerziehungslager. Und uns als Privatleute soll der Staat doch gerade wegen unserer Menschenwürde unseren Willen lassen: Wenn wir uns eine Ersatzniere klonen, weil wir sonst sterben; wenn wir vor Schmerz und Verzweifelung sterben möchten und um Hilfe bitten; ja sogar, wenn wir politisch unkorrekte Musik hören oder uns nicht vorschreiben lassen wollen, wen wir lieben und nicht hassen dürfen.

Der staatliche Schutz von "Menschenwürde" kann nicht sinnvoll biologisch definiert werden. Ein hirnloses Zellklümpchen ist kein Jemand, keine schützenswerte Person, anders als ein kleines Menschlein im Mutterleib, das vielleicht schon fühlt und denkt. Nicht biologistisch auf die menschliche Herkunft einer Zelle kommt es an, sondern auf das personale Bewußtsein. Während Ideologen rätseln, ob die Klon-Niere gegen die Menschenwürde verstößt, wächst eine Generation junger Leute heran, für die künstliche Intelligenz oder Implantierung des menschlichen Bewußtseins in Cyberwelten so greifbar nahe sind, wie es Jugendlichen vor vierzig Jahren die Mondlandung war. Wissenschaftler spekulieren in der FAZ darüber, wie viele Jahre es (nur) noch dauern wird, bis wir das gesamte menschliche Ich-Bewußtsein wie beim Kopieren einer Datei auf einen Datenträger überspielen können.

In einem Science-Fiction-Roman des Amerikaners Poul Anderson von 1993 schickte man solche Bewußtseinskopien in Robotkörpern auf die lange Reise nach Alpha Centauri. Der legendäre Isaac Asimov erfand nicht nur die drei Robotergesetze, sondern erkannte klar: Schützenswert ist die Intelligenz an sich, ist jedes bewußte Ich, sei es menschlich, sei es künstlich, sei es gänzlich andersartig. Zukunftsweisend ist Respekt vor jedem physisch wirklich vorhandenen, denkenden Anderen, während Scholastiker weiter von der metayphysischen Ausstrahlung von Bienchen und Blümchen schwadronieren mögen. Philosophen, Ethiker und Juristen sind aufgefordert, die Probleme des dritten und nicht die aus den Tiefen des zweiten Jahrtausends anzudenken und zu lösen.

Der Rinderwahn kam vom Menschenwahn. Der Mensch in seinem Wahn ist nach Friedrich Schiller der "schrecklichste der Schrecken", und angesichts eines abgeheuschreckten Erdballs mit Milliarden potentiellen Umweltschädlingen werden die Lösungen der Zukunft pragmatische Lösungen sein. Noch kein Respekt vor Göttern, Lilienblüten oder humanitaristischen Schimären hat jemals Menschen davon abgehalten, ihre Existenz zu schützen. Zwischen den Imperativen knapper Ressourcen und gierigen Großkapitals wird es Mühe genug kosten, ethische Standards dagegen zu bewahren, was Konrad Lorenz als Verhausschweinung des Menschen bezeichnete. Diese Standards werden an Realitäten anzuknüpfen haben und nicht an ideologische Hirngespinste.


 
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