© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/01 19. Januar 2001

 
Der verheerend potenzierte Rinderwahnsinn
BSE-Krise: Warum die geplante Abschlachtung von 400.000 Tieren ein Irrweg ist
Bernd-Thomas Ramb

Die BSE-Erkrankungen nehmen in Deutschland verheerende Ausmaße an. Diesen Eindruck legen zumindest die jüngsten Äußerungen der Politiker nahe, die zwar seit langem über die Gefahren der Rinderseuche Bescheid wissen, aber scheinbar erst jetzt in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden.

Das liegt zum einen an den Politikern selbst, die lange Zeit das Thema BSE der deutschen Öffentlichkeit verschwiegen haben und in einigen Fällen für dieses Versäumnis den Preis des Amtsverlustes bezahlen mußten. Zum anderen haben aber auch Politiker und Medienmacher gemeinsam die Tabuisierung dieses Themas praktiziert. Zu sehr wurden negative Auswirkungen auf den ohnedies angeschlagenen Ruf der Europäischen Union und ihres seit Jahrzehnten andauernden Agrarfilzes befürchtet. Die Devise "Nur keine negativen Berichte über die Europäische Union, solange der Euro noch nicht definitiv eingeführt ist", schien nicht nur peinlich genau, sondern auch nahezu wasserdicht einhaltbar.

Der in Großbritannien erstmals aufgetretene Rinderwahn war aber von Anfang an ein europäisches Problem, das über die unbegrenzte Freiheit der Agrarmärkte Zuzugsrecht zu allen EU-Staaten besaß. Was blieb den pro-EU-verpflichteten Politikern somit anderes übrig, als das BSE-Problem auf möglichst kleiner öffentlicher Sparflamme zu köcheln? Mit dem ersten BSE-Fall in Deutschland war diese Position nicht mehr zu halten.

Der nunmehr nahezu in das Gegenteil überzogenen politischen Hysterie, die sich im gegenseitigen Wechsel mit der Verunsicherung der Bevölkerung populistisch aufschaukelt, ist die tiermedizinische und ethische Beurteilung gegenüberzustellen. Sie stehen, wenn auch weniger durch die Medien alimentiert, in einem erheblichen Kontrast. Aus medizinischer Sicht existieren immer noch große Fragen hinsichtlich des Übertragungsweges. Dementsprechend ist die Einstufung des Rinderwahns als Seuche oder Nichtseuche noch nicht möglich. Die seuchengerechte politische Reaktion, alle Rinder in der Umgebung eines befallenen Tieres abzuschlachten, stellt zudem nur vordergründig die größtmögliche Vorsichtsmaßnahme dar. Die Beseitigung der Tierkadaver könnte bei tatsächlichem Vorliegen einer Seuche zu einer erheblich größeren Verbreitung beitragen als die Isolierung verdächtiger Rinder. Vor allem bietet deren weitere Beobachtung und tiermedizinische Analyse erheblich Vorteile zur Entwicklung eindeutiger Diagnoseverfahren.

Aus ethischer Sicht stellt die nunmehr geplante Abschlachtung von über 400.000 Rinder allein in Deutschland eine Potenzierung des Wahnsinns dar. Dabei schockiert nicht nur die große Zahl. Selbst die Abschlachtung einer Herde von 100 Tieren aufgrund der Erkrankung eines einzelnen Rindes muß zu der Frage führen, ob dies mit den humanistischen Vorstellungen eines ethisch fortgeschrittenen Volkes vereinbar ist. Möglicherweise muß aber auch der Begriff des Fortschritts überdacht werden.

In Naturvölkern ist die Achtung vor dem Tier, das zur eigenen Ernährung getötet wird, wesentlich größer als in den sich so fortschrittlich und modern fühlenden Industriestaaten. Die wachsende Ansicht, daß Tiere keine Lebewesen, sondern Massenkonsumwaren sind, ist aber nicht nur von einer zunehmend gegenüber ethischen Gesichtspunkten gleichgültigen Bevölkerung zu verantworten. In Zeiten des politisch unwidersprochenen Schmuddeljournalismus mit täglichem Schlüssellochfernsehen und vorabendlichen Intimitätsgeilheitssendungen wird jedes Volk schnell ethisch führungslos.

Der Rinderwahn offenbart daher nicht nur eine Fehlentwicklung in der industriellen Ernährungsindustrie, sondern mehr noch die allgemeine Fehlentwicklung der Kultur. Auch wenn dies nicht nur die Deutschen betrifft, so sollten sich gerade die Deutschen nicht scheuen, eine – warum nicht auch vorbildliche – Wende einzuleiten. Bevor nun die Befürchtung laut wird, es sei damit eine Forderung verstanden á la "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen", die ohnedies nur noch völlig falsch interpretiert wird – nein, zunächst sollten die Deutschen am deutschen Wesen genesen. Schließlich gab es durchaus Zeiten, in denen die Deutschen im Ruf eines Kulturvolkes standen. Eine solche Reaktivierung kann nur der Böswilligste als reaktionär darstellen.

Leider gehört jedoch in diesen Zeiten dazu die Erlaubnis der Europäischen Union. Das Verheerendste an der BSE-Epidemie bleibt damit eine politische Erscheinung, die verheerende Europapolitik unter dem Maastricht-Regime.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen