© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/01 19. Januar 2001

 
Kolumne
Normalität
Heinrich Lummer

Nach Wende, Wiedervereinigung und dem Ende des Ost-West-Konfliktes konnte man die Hoffnung haben, Deutschland habe nun die Chance, wieder ein normaler Staat unter anderen zu werden. Der Regierungswechsel 1998, der erstmals einen Kanzler brachte, der nicht zur Kriegsgeneration gehörte, wurde in der internationalen Presse oft so gedeutet, nun werde Deutschland seine Interessen neu definieren und sich in die Normalität bewegen. Tatsächlich fand der Kanzler auch einige Worte, die in diese Richtung gingen, und mancher aufrechte Deutsche freute sich darüber.

Aber die erhoffte Entwicklung trat nicht ein. Ganz im Gegenteil. Man muß den Eindruck gewinnen, solange man Deutschland im Kalten Krieg brauchte, nahm man manche Rücksicht. Man redete 50 Jahre nicht von Zwangsarbeiterentschädigung, und man machte auch Auschwitz nicht zum zentralen Angelpunkt unserer Geschichte, und ein monströses Holocaust-Denkmal war auch nicht Gegenstand der Debatten. Und die Wehrmacht wollte Herr Reemtsma auch erst nach der Wiedervereinigung zur Verbrecherorganisation avancieren lassen.

Just als Deutschland nach 50 Jahren bewährter Demokratie die Chance erhielt, wie andere zu werden, da setzte eine Bewegung ein, die uns jene Vergangenheit, die nicht vergehen will, vor Augen führte. Und dies nicht nur durch Worte, als Denkanstoß gewissermaßen, um aus der Vergangenheit zu lernen. Vielmehr geht es offenbar darum, die Identität der Deutschen in Frage zu stellen und womöglich zu liquidieren.

In Wahrheit kann kein Mensch und auch kein Volk auf Dauer ohne Stolz leben. So wird es in den nächsten Jahren und vermutlich Jahrzehnten darum gehen, unseren Weg in die Normalität zu finden. Dies ist nur möglich, wenn unsere Politik selbstbewußter wird und bereit ist, deutsche Interessen zu erkennen und sich daran zu orientieren.

Die jetzt an die Macht gekommene Generation der Achtundsechziger wird das nicht leisten können. Die Hoffnung sind die Jüngeren. Die Europäische Union und auch die Globalisierung setzt nationale Identität voraus. Ohne Heimat und Bewußtsein seiner selbst geht es nicht. Wir haben keine einfache Zeit vor uns. Nicht immer ist da, wo ein Wille ist, auch ein Weg. Aber wo kein Wille ist, da wird auch kein Weg sein. Auf den Willen der Deutschen kommt es an.

 

Heinrich Lummer, Berliner Innensenator a.D., war bis 1998 Bundestagsabgeordneter der CDU.


 
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