© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/01 05. Januar 2001

 
Die Führungsrolle der Alliierten übernommen
Tagung der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt: Der Aufstieg der Vereinigten Staaten von Amerika zur Weltmacht
Alfred Schickel

D ie Zeitgeschichtliche For schungsstelle Ingolstadt hat auf ihrer jüngsten Veranstaltung die im Vorjahr begonnene Studienreihe über den Aufstieg der USA zur Weltmacht fortgesetzt. Zeitgeschichtsforscher Konrad Pingel referierte vor den rund 150 Tagungsteilnehmern über "die sich aus der amerikanischen globalen Vormachtstellung ergebenden geostrategischen Konsequenzen für die Gegenwart".

Er leitete seine Darstellung mit einem Zitat aus einer Rede ein, die der seinerzeitige Senator von Illinois, James Semple, im Jahr 1850 vor seinen Kollegen in Washington gehalten hatte. In ihr umschrieb der Politiker den amerikanischen Imperialismus als "das nichterfüllte Schicksal des amerikanischen Volkes, eine neue Ordnung der menschlichen Belange zu gestalten", um "neuen herrlichen Ruhm über die Menschheit aufstrahlen zu lassen" und "die Welt als eine Familie zu vereinen". Eine "göttliche Aufgabe" und "unsterbliche Mission", als deren nächste Etappen James Semple damals anpeilte, "den Kontinent zu unterwerfen" und "über die weiten Ebenen zum Pazifik zu eilen", um danach (im 20. Jahrhundert) "Millionen Menschen jenseits der Meere vorwärtszutreiben, die Versklavten zu befreien, die Prinzipien der Selbstbestimmung ins Werk zu setzen" und "alten Nationen neue Kultur zu bringen". Zielvorgaben, die für die US-Präsidenten des 20. Jahrhunderts gleichsam zu Regierungsprogrammen wurden, wie Woodrow Wilson, Franklin D. Roosevelt, John F. Kennedy, Ronald Reagan und Bill Clinton in ihrer Außen-, Wirtschafts- und Militärpolitik dokumentieren.

Mit der Verwirklichung des jeweiligen Programmpunktes vermochten sie zugleich auch ihr Land zu größerer Weltgeltung zu bringen. So führte Wilson 1918 nicht nur das "Prinzip der Selbstbestimmung" in die Politik ein, sondern machte auch die USA zur unbestrittenen Großmacht des Westens, sagte Franklin D. Roosevelt in der "Atlantik-Charta" vom 14. August 1941 der "Macht der Tyrannei" nicht allein den Kampf an, sondern erlangte mit der erfolgreichen "Ausrottung der Nazi-Tyrannei" im Jahre 1945 für sein Land auch die Vormachtstellung in der westlichen Welt. Nach diesem Triumph konnten seine Nachfolger "den alten Nationen neue Kultur" bringen und sich den farbigen Kolonialvölkern als "Befreier der Versklavten" vorstellen. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks sind die Vereinigten Staaten endgültig zur allein bestimmenden Weltmacht aufgestiegen. Senator Semples Vision von 1850 scheint erfüllt.

Wie die USA damit umgehen und sich ihrer selbstgestellten Aufgabe gewachsen zeigen, machte Pingel auf dem ZFI-Kongreß an einigen Beispielen deutlich. Er befaßte sich dabei mit den verschiedenen Vorgehensweisen und Einrichtungen der USA, die in den vergangenen 60 Jahren zu beobachten waren und die das US-Weltherrschaftsstreben begünstigten.

Ein wichtige Weichenstellung ist dabei während des Zweiten Weltkrieges auf den 17. Dezember 1940 zu datieren. Da hatte Präsident Roosevelt auf einer Pressekonferenz erklärt, daß "es in Amerikas ureigenstem Interesse" läge, "die Briten in der Lage zu erhalten, ihre Politik der Kriegführung fortzusetzen und dadurch Kapital in den Aufbau der amerikanischen Rüstungsindustrie hineinzupumpen". Das bedeutete, das britische Empire einem erschöpfenden Kräfte- und Materialverschleiß auszusetzen und mit der in Aussicht gestellten Hilfe mittels des "Pacht- und Leihabkommens" (März 1941) den europäischen Konflikt zu einem Weltkrieg auszuweiten; zugleich aber auch für die Vereinigten Staaten die Möglichkeit, vielfältigen wirtschaftlichen Vorteil für ihre Nationalökonomie zu ziehen.

Konrad Pingel in Ingolstadt: "Nach der Wirtschaftskrise der USA in den dreißiger Jahren startete Roosevelt damit das große amerikanische Wirtschaftswunder und ebnete für sein Land den Weg zur Weltmacht Nummer eins – allerdings auf Kosten der Verbündeten, insonderheit Großbritanniens. Was mit dem New Deal vorher nicht erreicht worden war, das schaffte Roosevelt in unvorstellbarem Maße mit dieser Politik. Verständlich, daß ihn die Amerikaner für einen ihrer größten Staatsmänner halten".

Die Briten mußten sich aus Selbsterhaltungswillen auf Roosevelts Vorgaben einlassen und schlugen unter Churchills Führung jedes Arrangament mit Deutschland aus. Der Sieg in der Luftschlacht über England im Spätjahr 1940 mochte zwar vordergründig die alternativlose Notlage Großbritanniens überdecken, konnte aber seinen machtpolitischen Niedergang nicht verhindern. Der Flug von Hitler-Stellvertreter Heß im Mai 1941 schien Churchill nochmals eine kleine Trumpfkarte gegenüber den USA in die Hand zu geben und brachte ihm zumindest neben anderen antideutschen Aktionen Washingtons Roosevelts Solidaritätserklärung in der "Atlantik-Charta" ein. Nach der deutschen Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten am 11. Dezember 1941 und dem Abschluß des "Washington-Paktes" vom 1. Januar 1942 waren die USA endgültig als entscheidende Macht auf dem Schauplatz der Weltpolitik aufgetreten und hatten die Führungsrolle der Alliierten übernommen.

Sogar die Sowjetunion ließ dem westlichen Machtkonkurrenten vorübergehend den Vortritt und gab sich von einer Erklärung unberührt, die das Washingtoner State Departement am 9. März 1943 der britischen Regierung zur Kenntnis bringen ließ. Auf den ersten Blick schien sich diese "Declaration of National Independence" zunächst tatsächlich nur auf die von den Achsenmächten (Deutschland, Italien und Japan) besetzten Länder zu beziehen. In Wahrheit sollte sie aber für alle Völker der Erde, also auch für die britischen Kolonien, gelten, womit die Weiterexistenz des britischen Weltreichs definitiv in Frage gestellt und die nachfolgende Hegemonie der Vereinigten Staaten unabwendbar war – eine machtpolitische Abdankung Großbritanniens auf dem Wege zum Sieg über den deutschen Nebenbuhler auf dem europäischen Kontinent.

Stalin demonstrierte da augenscheinlich mehr Selbstbewußtsein und schlug 1943 sowohl ein Dreiertreffen mit Roosevelt und Churchill in Casablanca aus als auch die Übernahme der dort aufgestellten Forderung nach bedingungsloser Kapitulation der Achsenmächte. Vielmehr hielt er sich durch kaum verdeckte Kontakte zu deutschen Gesprächspartnern in Stockholm betont einen Sonderfrieden mit Berlin offen und brach auch mit der in London residierenden polnischen Exilregierung. Selbst das von Washington und London verantwortete Lebensopfer Ministerpräsident Sikorskis konnte den Kremlchef nicht mehr zu einer freundlicheren Beziehung zu den polnischen Exilanten im Westen bringen.

Ohne sich sonderlich mit dem britischen Bundesgenossen abzusprechen, ließen die Amerikaner nach Konrad Pingels Erkenntnissen ihren Invasionsarmeen in Frankreich "bereits die Stoßtrupps ihres Spezialdienstes (’Office Special Services‘) für eine kulturelle Invasion (’Cultural Invasion‘) folgen". Den Zeitgenossen wurde die Aktion als "Kreuzzug in Europa" vermittelt und schließlich als "Akt der Befreiung" gefeiert.

So bekamen offensichtlich "alte Nationen" eine "neue Kultur", wie es Senator Semple vor anderthalb Jahrhunderten als "göttliche Aufgabe" seines Lebens bezeichnet hatte. Letztlich steht hier jedoch nur ein Beispiel für die anderen, gleichfalls mittlerweile erfüllten "selbstgestellten Aufgaben" von 1850.

ZFI-Referent Pingel wußte auf der Ingolstädter Tagung auch von der Tätigkeit so mancher US-Einrichtung zu berichten, deren Existenz ebenso beiläufig erscheint wie ihr Wirken effektiv ist. Etwa das "George Marshall Center", auf dessen deutsche Niederlassung in Garmisch-Patenkirchen er durch Zufall gestoßen ist. Es hat die Aufgabe, "die demokratische Elite für den eurasischen Kontinent" auszubilden, und definiert sich als "Internationale Bildungseinrichtung, die zur Schaffung einer Gemeinschaft der Nationen vom Atlantik bis einschließlich Eurasien beiträgt". Es ist keine Nato-Institution und wird von der BRD und den USA finanziert, wobei die zu vermittelnden Bildungsinhalte in der Washingtoner Zentrale fixiert werden. Ebenso die Tätigkeitsfelder und die dort zu schulenden Personenkreise, nämlich der eurasische Raum und dessen einheimische Führungskräfte in Wirtschaft, Militär, Kultur und Politik.

Nach Meinung des ehemaligen Sicherheitsberaters Präsident Carters und heutigen Vordenkers der US-Politstrategen, Zbigniew Brezinski, ist die Beherrschung "Eurasiens" für die Vereinigten Staaten von zentraler Bedeutung. Immerhin leben dort 75 Prozent der Weltbevölkerung. Und dort liegt der größte Teil der natürlichen Weltressourcen und wird über die Hälfte des Weltbruttosozialprodukts erwirtschaftet. Unverblümt stellt Brezinski in einer aktuellen Lagebeurteilung fest, daß "der gesamte eurasische Kontinent von amerikanischen Vasallen und tributpflichtigen Staaten übersät" sei, und nennt die "Dynamik der amerikanischen Wirtschaft die notwendige Voraussetzung für die Ausübung globaler Vorherrschaft".

Brezinskis Bezeichnung "amerikanische Vasallen" scheint gar nicht so verfehlt, auch wenn sie den einen oder anderen (noch) nationalstolzen Zeitgenossen stören dürfte. Beim Fortschritt der Wissenschaft hat man sich in den "eurasischen Ländern" schon an die Rolle in der zweiten oder dritten Reihe gewöhnt und sich damit abgefunden, daß beispielsweise seit Jahrzehnten die meisten Nobelpreise an US-amerikanische Forscher gehen und für den "Rest der Welt" allenfalls noch die Literaturauszeichnungen übrigbleiben. Von den westeuropäischen "Vasallenstaaten" Amerikas wehrt sich augenscheinlich nur Frankreich gelegentlich gegen die Vorherrschaft der USA und macht sich für die Reinerhaltung seiner Sprache stark. Bundespräsident Rau schlug unlängst ähnliche Töne an, stieß jedoch auf kein sonderlich großes Echo im Lande Goethes und Schillers.

Auf der weltpolitischen Bühne bemühen sich neuerdings Rußland und China zusammen mit Nordkorea, Tadschikistan, Kasachstan, Kirgistan und Usbekistan um ein Gegengewicht zur Einflußnahme Washingtons auf den "eurasischen Kontinent". Pingel verwies dabei auf die Aktivitäten des russischen Präsidenten Putin und seines chinesischen Kollegen Jiang Zemin sowie die Konferenz von Duschanbe im Juli 2000, wo man sich gegenseitig eine engere Zusammenarbeit versprochen hat. Politische Vorgänge, die am Potomac aufmerksam registriert wurden und die anschließenden Reisen Madeleine Albright und Präsident Clintons nach Nordkorea und Vietnam in einem besonderen Licht erscheinen lassen. Die US-Administration will die einstigen "Schurkenstaaten" offensichtlich zu Vasallen mutieren lassen, um sie schlußendlich in die von ihr entworfene "neue Weltordnung" einzufügen, so wie sie Senator Semple vor 150 Jahren beschrieb, als er es die "unsterbliche Mission" Amerikas nannte, "die Welt als eine Familie zu vereinen".


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen