© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/01 05. Januar 2001

 
Das Scheitern des linken Europaprojekts
EU-Gipfel: Die Union bleibt weiter undemokratisch, bürgerfern und von den Völkern entfremdet
Gernot Sturm

Der Berg kreiste und gebar eine halbtote Maus. Nach vier Tagen und Nächten Gipfelmarathon in der Tagungsfestung "Akropolis" in Nizza einigten sich die fünfzehn zerstrittenen EU-Regierungschefs auf ein Mini-Reformpaket, das einige Probleme der EU-Entscheidungsverfahren löste, die meisten jedoch unerledigt ließ und dafür neue Ungereimtheiten und Probleme schuf. Pflichtgemäß wurde das Verhandlungsergebnis von allen als Erfolg gefeiert.

Gleichzeitig sind sich alle einig, daß es Jacques Chirac war, der mit seinen innenpolitischen Prärogativen und seiner Unfähigkeit, gerade kleineren Ländern zuzuhören, für das weitgehende Scheitern verantwortlich war. Das erlaubte es den anderen, Tony Blair, José María Aznar und dem desinteressierten deutschen Kanzler, sich hinter dem diplomatischen Versagen des französischen Präsidenten zu verstecken. Die Aufgabe dieser Regierungskonferenz war es gewesen, die EU, die immer noch mit den Entscheidungsstrukturen der Klein-EWG von 1957 operiert, auch mit künftig 27 Mitgliedstaaten noch funktionsfähig zu halten. Auch sollten ihre demokratischen Defizite abgestellt werden, und die Kommission rief mit großem Aufwand zum "Dialog" mit dem Bürger, dem in Brüssel unbekannten Wesen, auf. So wurden einmal mehr Blütenträume von einer europäischen Verfassung mit einem verbindlichen Grundrechtekatalog, mit präzisen Kompetenzverteilungen und einem föderalistischen Zweikammersystem nach US- oder Schweizer Vorbild mit der Kommission als parlamentarisch gewählter europäischer Bundesregierung geweckt.

Doch nichts von alledem. Die Herren Regierungschefs dachten klein. Sie ignorierten den Dialog mit jeglichem Bürger. Sie straften auch das visionäre Geschwätz des deutschen Außenministers ("Avantgarde") und dessen spät gefundene Liebe zu Europa mit Verachtung, was diesen jedoch keineswegs störte. Die vielbejubelte Grundrechtscharta des Konventes von Altbundespräsident Roman Herzog flog auf Drängen der Engländer als erstes aus dem Vertrag. Sie soll nunmehr per "Selbstbindungserklärung" die EU-Organe zur Achtung der Menschen- und Bürgerrechte anhalten.

Den Gang in den Papierkorb nahm auch das Konzept einer eigenständigen europäischen Verteidigung. Statt dessen prügelten die Regierungschefs sich nach Kindergartenart um die Höhe ihrer nationalen Stimmrechte. Für sie ging es um die politische Macht in der erweiterten EU. Bislang bestand die maximale "Spreizung" der Stimmrechte zwischen dem Scheinriesen Deutschland mit zehn Stimmen und dem Kleinstaat Luxemburg mit zwei Stimmen im Verhältnis 5:1. Da viele Kleinstaaten wie Malta, Zypern, Slowenien, die Balten und außer Polen sonst nur Mittelstaaten der Union beitreten wollen, bestand bei einem unveränderten Stimmenschlüssel die Gefahr der Überstimmung der Bevölkerungsmehrheit, die in den großen Nettozahlerländern lebt, durch die stimmenmäßig begünstigten kleinen neuen Habenichtse. Deshalb sollte die Spreizung zwischen "groß" und "klein" eigentlich vergrößert werden. Kanzler Schröder, der zu Hause vollmundig angekündigt hatte, er wolle die nach der Wiedervereinigung längst fällige Erhöhung der deutschen Stimmrechte gegenüber den um 23 Millionen kleineren anderen "Großen" durchsetzen, startete als Tiger und landete als Bettvorleger. Er hatte nach zwei Tagen schlicht die Lust am Verhandeln verloren und ließ dann seine mürrische Kapitulation als Triumph seiner höheren europäischen Gesinnung feiern, die vor französischem Prestigedenken ein Einsehen gehabt habe, während andere wie die Teppichhändler wegen 200.000 Einwohnern um einen Stimmrechtspunkt stritten. So gelang Spanien dann das Kunststück, mit weniger als halb soviel Bürgern (39 Millionen) wie Deutschland die Spreizung zu Deutschland von ursprünglich 8:10 auf 27:29, das heißt den Abstand von 20 Prozent auf 7 Prozent zu verringern.

Von diesem Meisterstück der deutschen Diplomatie soll dereinst auch Polen profitieren, dem von Schröder und Fischer eine strikte Gleichbehandlung mit Spanien zugesichert worden war. Dagegen wurden andere Kandidaten stiefmütterlich behandelt: Rumänien mit 60 Prozent der polnischen Einwohnerzahl erhält mit 13 oder 14 Stimmen nur knapp die Hälfte der 27 Stimmen Polens. Lettland, das mit 2,4 Millionen Einwohner sechsmal größer ist als Luxemburg, wurde mit den gleichen vier Stimmen beglückt. Früher war die institutionelle Vertretung der Neumitglieder Gegenstand der Beitrittsverhandlungen, jetzt erfolgt sie im einseitigen Oktroi. Wohlweislich ließen die EU-Staatslenker die Vertretung des Kandidaten Türkei außer acht, dessen Bevölkerung sich jährlich um die Einwohnerzahl Estlands (1,4 Millionen) erhöht und sich deshalb in zwei Jahrzehnten auf 120 Millionen verdoppelt haben dürfte. Mit 29 Stimmchen werden sich die Türken sicher nicht zufriedengeben.

Schröder startete als Tiger, landete als Bettvorleger

Als Entschädigung für die Nichtrepräsentanz von 23 Millionen deutschen Zahlmeistern im Rat erhielt Deutschland die Zusage, nach der Erweiterung weiterhin 99 Abgeordnete nach Straßburg wählen zu dürfen. Dagegen kürzten England, Frankreich und Italien bereitwillig und ohne Diskussion ihre Kontingente bei den nächsten Wahlen im Sommer 2004, bei denen die ersten Neumitglieder schon teilnehmen sollen, um je 13 Abgeordnete. Österreichs Kontingent wird von 21 auf 17 vermindert. Doch Luxemburg bleibt bei seinen sechs MdEPs. Eine Luxemburger Wählerstimme wird deshalb nach wie vor 12mal mehr wert sein als eine deutsche. Neue Rechte hat das Parlament in Nizza nicht erhalten.

Das inhaltlich spannendste Thema hätte eigentlich der Übergang vom Einstimmigkeitsprinzip zu qualifizierten Mehrheiten werden sollen. Denn was für 15 mehr schlecht als recht funktioniert, ist mit 27 noch unterschiedlicheren Mitgliedstaaten sicher nicht mehr machbar. Verbindliche Beschlüsse und echte Integrationsfortschritte sind bei einem fortgesetzten Einstimmigkeitsprinzip unrealistisch. Schon 1977 hatte Malta mit seinem Veto die KSZE erfolgreich lahmgelegt. Dennoch bestand Frankreich weiterhin auf dem Einstimmigkeitsprinzip bei Kulturthemen, Audiovisuellem, Erziehung, Gesundheit und Sozialdiensten. Die Dänen setzten die Seeschiffahrt durch; die Engländer das Steuerrecht, das Militär und die soziale Sicherung; die Deutschen Asyl, Einwanderung, die Mitbestimmung und das Innungsrecht der Handwerkskammern; Österreich die Wasserressourcen, die Wahl der Energieträger, die Raumordnung und die grundsätzlichen Verkehrsfragen. Spanien, wegen dessen Verhandlungsgebahren schon die Vorgängerkonferenz zu Amsterdam im Desaster endete, wurde diesmal mit Samthandschuhen angefaßt. Doch es half nichts. Es setzte die Einstimmigkeit für die Strukturpolitik bis 2007 durch. Bis dahin müssen die Förderentscheidungen bis 2013 gefallen sein, mit einem spanischen Vetorecht gegen alle Transferkürzungen auf die iberische Halbinsel.

Statt der versprochenen Vereinfachung führt Nizza für die qualifizierte Mehrheit (derzeit 71 Prozent der gewichteten Stimmen, später möglicherweise 73 Prozent – niemand weiß das so recht) ein künftig dreifaches Mehrheitserfordernis ein. Nicht nur soll sie qualifiziert sein, sie soll auch 62 Prozent der EU Bürger entsprechen (dies entspräche der Gesamtheit des deutschen, britischen und französischen Volkes in einer erweiterten EU-27),und drittens einer einfachen Staatenmehrheit (um die Kleinstaaten zu beglücken) entsprechen. Statt einer sauberen Mehrheit wird es deren drei geben, garniert mit einer langen Liste von Einstimmigkeitsthemen, bei denen sich nichts mehr bewegen wird. Nicht immer muß dies eine Katastrophe sein: So bemühten sich die Finanzminister bislang, gottlob meist vergebens, stets nur um Steuerharmonisierungen auf dem höchsten Niveau. In Zukunft wird es wie unter den amerikanischen Bundesstaaten notgedrungen auch einen heilsamen Steuerwettbewerb nach unten geben müssen.

Mehrheitsrecht könnte nicht komplizierter sein

Für die Europäische Kommission, deren Chef Prodi von Chirac an den Katzentisch verbannt wurde und die im Gegensatz zu den Großtagen von Jacques Delors durch keinerlei durchsetzungsfähige visionäre Vorschläge glänzte, sieht der Vertragsentwurf von Nizza für die nächste Amtsperiode den Verzicht der "Großen" auf den zweiten Kommissar vor. Ab 2006 können sich Kommisarin Schreyer und ihre Kollegen Patton, Monti, Solbes Mira und Barnier nach einem neuen Job umsehen. Doch erst wenn die Zahl der Kommissare nach den Erweiterungen auf 27 steigt, eine Größe, die bei Schulklassen eine Teilung erzwingt, dann soll eine Neufestlegung erfolgen. Einstimmig, versteht sich.

Kanzler Schröder meinte, er könne mit den Ergebnissen von Nizza "gut leben". Das glaubt man ihm gerne. Wie alle europäischen Termine war Nizza für ihn eine lästige Pflichtübung, die er mit dem üblichen Minimum an Aufwand hinter sich brachte. Kommissionspräsident Prodi und die Regierungschefs von Finnland, Portugal, Luxemburg und Belgien, die sich ernsthafter engagiert hatten, gaben sich offen enttäuscht. Auch im Europäischen Parlament hagelte es Kritik. Hansgert Pöttering, der Chef der Europäischen Volkspartei, der stärksten Fraktion, gibt sich demgegenüber staatsmännisch: Man dürfe durch die Ablehnung dieses defekten Vertrages nicht die Osterweiterung gefährden. Die Debatten dürften spannend werden. Der ungelösten Probleme eingedenk vereinbarten die Regierungschefs eine Folgeveranstaltung im Jahr 2004. Dann sollen angeblich Kompetenzabgrenzungen vereinbart werden, um die deutschen Ministerpräsidenten glücklich zu machen.

Einen weiteren Verhandlungserfolg rühmte der deutsche Bundeskanzler: Es werde ein Grenzlandförderungsprogramm für die an die Beitrittsländer grenzenden EU Regionen geben. Die Sache hat nur zwei Schönheitsfehler: Die Initiative stammt nicht von ihm, sondern vom österreichischen Kanzler Wolfgang Schüssel. Und nach den BSE-Rindervernichtungsbeschlüssen sind die EU Kassen gähnend leer. Wie eine EU der 27 mit den in Nizza beschlossenen Entscheidungsverfahren funktionieren soll, bleibt ein Rätsel. Daß sie vor allem auf deutsche Kosten weiter undemokratisch, bürgerfern und von den Völkern Europas entfremdet operieren wird, steht nunmehr fest. Das Scheitern des linken Europaprojekts der mehrheitlich sozialistischen Staats- und Regierungschefs wurde offenkundig. Zu stark war ihre unernste Verhandlungsführung, das Schielen nach medialen innenpolitisch bewerteten Verkaufserfolgen, das Fehlen europäisch-abendländischer Überzeugungen und der grenzenlose Opportunismus ihrer politischen Sozialisationen. Kein Wunder, daß Stoiber und Haider in ersten Reaktionen nicht unzufrieden waren.


 
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