© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/00-01/01 22. Dezember / 29. Dezember 2000

 
Weihnachtszeit: Die deutschen Kerzenhersteller gehen in die Offensive
Mehrdochter und Kandelaber
Jutta Winckler

Für die Wendedeutschen 2000 ein vielfach unterbewerteter Fakt eine besonders zur Winterzeit anheimelnde Beleuchtungspraxis, näherhin die Verwendung nichtelektrischer Lichtträger. Lagerübergreifend lassen Deutsche, die außer Europäer nichts mehr sein wollen, Kerzen brennen. Die leuchten in Synagogen und Kirchen, in Einfamilienhäusern und Villen ebenso wie in Katen und Unterkünften: Greise entzünden jene naturbelassen wirkenden Lichtträger ebenso gerne wie Kinder oder gar Jugendliche, deren erste geschlechtliche Beiwohnung in romantischem Flair stattfinden soll.

Auratisch warmer Kerzenglanz, die nachgerade erotisierende Ausstrahlung der schlanken wächsernen Gebilde, Zweisamkeit, untermalt von dezenter Musik, dazu exquisite Happen und intime Liebeswonne: Was trüge wohl mehr zur Romantisierung einer prosaisch gewordenen Welt bei?

Linke – grüne wie rote – tragen ihr in der Regel bescheidenes Talglicht auf allerlei Kundgebungen vor sich her. Liberale genießen Kerzenschein im kleinen Kreis, meist räsonnierend in kultivierter Kaminrunde. Rechte marschieren mit martialisch anmutender Pechfackel, sitzen bündisch am funkensprühenden Lagerfeuer, springen zur Winter- oder Sommersonnenwende über die hohe Flamme.

Doch gern auch sitzt man blondbezopft Hand in Hand mit gleichgesinnten Daseinskameraden im Heim, um tief sinnend und teutsch singend sich im Licht des Julleuchters zu verlieren. Letzteren erstand man geistig beim nationalen Versender im Norden.

Anders, doch nicht weniger innig das Verhältnis des christkatholischen Mütterchens zur Kerze, wenn es, sagen wir im Vogtland, die Gottesmutter Maria verehrend, zur geweihten Kerze greift. Es gilt, zur Nacht bußfertig Einkehr zu halten vor dem Hausaltärchen: Rote Grableuchten flankieren die geschmacklich stark ins Polnische lappende Madonnenplastik im Ern.

Unbeleuchtet von den luxstarken Scheinwerfern unserer medialen "Öffentlichkeit" haben sich die Kerze, ihr eigentümliches Licht und sein lebensweltlicher Mehrwert, in Moderne und Postmoderne hinüberretten können. Koextensiv zu den Annehmlichkeiten elektrischer Beleuchtung wuchs offenbar ein Verlangen nach eigenhändig entzündbarem, eigenmündig ausblasbarem Licht, vergleichbar der Sehnsucht nach ländlichem Leben und einfacher Kost in den Schluchten betriebsamer Städte.

Mittlerweile lebt ein ganzer Industriezweig von diesem Bedürfnis, das marktförmig als Nachfrage befriedigt wird – vom Riesenangebot der deutschen Kerzenhersteller. Die wissen um die Bedeutung von "Gemütlichkeit" im deutschen Heim und steuern Gemütlichkeitsaccessoires bei. Rund oder drei-, vier- oder mehreckig, symmetrisch und asymmetrisch, winzig oder kiloschwer riesig: Längst hat der Trend Einzug gehalten in die vordem biedere Welt traditionsreicher Familienbetriebe kleiner bis mittlerer Größe. Marketing, Produktstyling und Innovation sind Trumpf!

Heuer ist der voluminöse Mehrdochter in den Erdtönen schlamm, oliv oder sand Trendthema Nr.1; daneben als Alternative der China-Trend: chinesische Schriftzeichen schmücken den Kerzenkörper, der farblich in zarten Cremetönen gehalten ist. Alex Ströder von den Wachswerken in Fulda plaudert aus dem Kerzengießkästchen: "Unsere Trends orientieren sich zunehmend an denen der Mode- und Möbelbranche. Neben Innovativem bietet unser Sortiment dem konservativen Kunden natürlich auch weiterhin klassische Produkte und Farben an: bordeauxrot, himmelblau, golden und silbern."

Christina Martinstetter vom Verband der Deutschen Kerzenhersteller: "Alles, was glänzt und glitzert, kommt gut an. Wir setzen in dieser Saison verstärkt auf Gold- und Silberstaub und sogar verspiegelte Ware, die von Weihnachtskugeln erst auf den zweiten Blick unterscheidbar ist." Aromatisierte Kerzen bekommen neuerdings einen gesundheitsfördernden Effekt, setzt man ihnen doch Öl aus Pfefferminze, Eukalyptus, Rosmarin, Lemongras oder Lavendel zu. Auf die Experimentierlust der Kundschaft setzen exotische Zusätze wie etwa "Bananennußbrot", "Würzkürbis" und "Venusallraune". Saisonunabhängige Top-Klassiker wie echte Bienenwachskerzen konnten sich in früheren Zeiten nur wohlhabende Bürger und Kirchengemeinden leisten. Die übrige Kundschaft beschied sich mit Lichtern aus Rindernierenfett oder Hammeltalg, den "Unschlittkerzen", die stark rußten und in den Stuben fürchterlichen Gestank verbreiteten. Erst im 19. Jahrhundert wurden die noch heute verwendeten Grundstoffe Stearin und Paraffin erfunden und dazu bessere Dochte, die man nicht ständig kürzen mußte: als "Putzen" verminderte es das Rußen und Tropfen der Kerzen. Die "Gütegemeinschaft Kerzen" mit Sitz in Stuttgart kümmert sich seit 1997 um die RAL-Qualitäts-Zertifizierung deutscher Wachslichter: Die Kerze "Made in Germany" brennt gleichmäßig nieder, ist tropffrei, schadstoffarm und glimmt nach dem Löschen nur extrem kurz nach.

Wer an seinem Wachslicht besonders lang Freude haben möchte, beherzige die Gebote der Bayrischen Wachszieher-Innung Augsburg: Kippsicher, zugluftfrei und in ausreichendem Abstand zu anderen Kerzen aufstellen! Kerzenrand nicht beschädigen! Brennteller sauber halten! Besonders dicke Exemplare nicht hohlbrennen lassen! Regelmäßige Dochtpflege tut not – optimal sind zehn Millimeter! Dann kann der Weihnachtsmann kommen. Mit Nuß und Mandelkern.


 
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