© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/00-01/01 22. Dezember / 29. Dezember 2000

 
"Man langweilt sich nie"
Ein Gespräch mit dem Publizisten Piet Tommissen über seine Arbeit im "Bergwerk" Carl Schmitt
Andreas Raithel / Peter Boßdorf

Herr Professor Tommissen, wie kamen Sie auf Carl Schmitt, dessen Biographie und Werk für Sie zu einem Lebensthema geworden ist? In einer Festschrift für Armin Mohler haben Sie einige Umstände erwähnt, die den Eindruck vermitteln, der Zufall habe seine Hand im Spiel gehabt.

Tommissen: Das war insofern kein Zufall, als ich bereits das Buch meines Landsmannes Victor Leemans kannte, der 1933 die erste Monographie über Schmitt geschrieben hatte. Als ich in Mohlers Opus magnum wiederum auf den Namen Carl Schmitt stieß, wurde ich neugierig. Ich fand dort eine Liste von Schriften und dachte: Das lohnt sich. Ich ging dann täglich in die Brüsseler Nationalbibliothek, und so habe ich schließlich eine vorläufige Bibliographie zusammengestellt, die auch die Sekundärliteratur berücksichtigte. Ich nahm dann mit Carl Schmitt Kontakt auf und wurde eingeladen. Was ich damals nicht wußte: die Einladung wurde finanziert von der Academia Moralis, denn Carl Schmitt hatte keine Möglichkeiten. Meine Frau und ich waren zwei oder drei Wochen in Plettenberg. Schmitt legte sich jeden Nachmittag ein Stündchen hin, und ich durfte dann meine Bibliographie erweitern und korrigieren. Es war unglaublich, zu sehen, was dieser Mann alles wußte, und wie unkompliziert er sich gab, auch meiner Frau gegenüber. Sie bekam jeden Tag Blumen. Er kaufte sogar kleine rote Schuhe für unser Kind, das unterwegs war.

Den Kontakt zu Carl Schmitt hat Armin Mohler hergestellt, der damals Sekretär von Ernst Jünger war.

Tommissen: Ja. Zunächst empfand ich eine enorme Neugier auf Ernst Jünger, und ohne meine Kenntnis der Schrift von Leemans wäre es fraglich gewesen, ob ich mich überhaupt mit Carl Schmitt befaßt hätte. Dann wäre es vielleicht Ernst Jünger geworden. Victor Leemans ist eigentlich derjenige, der die Waagschale in Richtung Schmitt gekippt hat.

Wie darf man sich Ihre Beziehung zu Carl Schmitt in den folgenden Jahren vorstellen?

Tommissen: Nun, das war ein Zeitraum von 35 Jahren. Anfänglich war alles unerhört positiv. Ich war sozusagen der Schüler. Ich habe enorm viel von Schmitt gelernt. Es gab dann freilich weniger erfreuliche Vorkommnisse, bei denen man sich fragte: Wie ist so etwas möglich? Eines Tages sagte er mir zum Beispiel, sein Aufsatz über Löwith solle ins Französische übersetzt werden für eine Festschrift für Raymond Aron. Ich habe das gemacht und – bekam einen bösen Brief von Schmitt: Wie das überhaupt anginge, eine solche Kleinigkeit einem so bedeutenden Manne für eine Festschrift darzureichen. Dabei war es ja seine Idee gewesen. Und danach tat er plötzlich wieder so, als sei nichts gewesen.

1971 verfaßten Sie eine erste Lebensskizze zu Carl Schmitt.

Tommissen: Eines Tages dachte ich, es sei wichtig, mit der Zusammenstellung einer kurzen Biographie zu beginnen. Ich hatte vor, diese Arbeit der Festschrift für den Nestor der flämischen Juristen Ritter René Victor darzubringen. Doch Schmitt wurde wieder einmal böse: "Das haben Sie alles von mir erfahren!" Ja, von wem denn sonst? Ich habe die Sache dann vernichtet, und für die Festschrift über die Partisanentheorie geschrieben. Danach war Schmitt wieder wie früher.

Ein paar Jahre später erscheint dann ein Aufsatz von ihnen über Schmitt und den Katholizismus nach 1918.

Tommissen: In seinen Augen war ich der Bibliograph und sollte der Bibliograph bleiben. Er war nicht einverstanden, als ich diesen Aufsatz in der Zeitschrift Criticón veröffentlichte. Dabei hatte er mir aber vorher gesagt: "Sie müssen unbedingt einen Aufsatz über die Katholiken nach 1918 schreiben." Da hätten die katholischen Intellektuellen nämlich plötzlich im Rampenlicht gestanden. Als ich das getan hatte, bekam ich plötzlich seinen Zorn zu spüren, wahrscheinlich weil ich nicht vorher mit ihm darüber gesprochen hatte.

Aber der Schritt über das "Bibliographenamt" hinaus war getan. Sie sammelten Materialien für die Publikation.

Tommissen: Das hat eigentlich schon früh begonnen. Vielleicht hängt das mit meiner Sammelwut zusammen. Ich dachte zuerst, im Rahmen des Möglichen Materialien zu sammeln. Man fängt an – aber es endet nie! Eines Tages rief mich Carl Schmitt an. Er sagte, seine Schwester wolle den Dachboden ausräumen: "Wenn Sie Lust haben ..." Ich bin natürlich nach Plettenberg gefahren und habe ungeheure Sachen gefunden. Das war mein Lohn, habe ich später gedacht. Erst nach Schmitts Tod erfuhr ich, daß er fast alles verkauft hatte. Um des Geldes für seine Tochter wegen. Zweimal hatte er mir gesagt: "Sie sind mein Nachlaßverwalter. Sie bekommen alles." Doch am nächsten Morgen war das vergessen. Heute bin ich froh, daß daraus nichts geworden ist. Stellen Sie sich vor, daß ich als Einzelperson eine solche Bürde hätte auf mich nehmen müssen!

In das Rampenlicht der Schmitt-Forschung sind Sie dann – von den Bibliographien einmal abgesehen – nach dem Tode Schmitts geraten, als Sie die Schriftenreihe "Eclectica" starteten.

Tommissen: Nach dem Tode Schmitts gab es folgendes Vorkommnis. Günther Krauss erzählte mir, die Zeitschrift Criticón sei nicht bereit, die Fortsetzung seiner "Erinnerungen an Carl Schmitt" zu drucken. Darauf erklärte ich leichthin, ich würde das übernehmen. An meiner Hochschule betreute ich eine eigene Schriftenreihe. Nun war die Fortsetzung von Krauss’ "Erinnerungen" zu kurz. Für den Druck mußte noch etwas hinzukommen. Und so habe ich die "Schmittiana" gestartet.

In der Druckfassung der Vorträge des Speyerer Schmitt-Symposiums hatten Sie erwogen, eine wissenschaftliche Biographie Schmitts vorzulegen.

Tommissen: Die Entscheidung darüber hing für mich vom Ergebnis der Speyerer Tagung ab. Doch als ein Kritiker der Tagung schrieb, es sei komisch, daß ich mit meinen "Bausteinen zu einer wissenschaftlichen Biographie" 1933 Schluß machen würde, war ich bedient.

Der wissenschaftliche Mainstream war seit Jahren bemüht, Carl Schmitt in jeder Hinsicht zu isolieren. Ihre Arbeiten erwecken den Eindruck eines konsequenten Kampfes gegen diese Isolierung.

Tommissen: Ich glaube, in zweifacher Hinsicht etwas Neues gebracht zu haben. Das bibliographische Verfahren sowie das Prinzip "Akkuratesse als Waffe", das heißt alles, was man behauptet, exakt nachzuweisen. Die Quellen aufstöbern und heranziehen. Über alle behandelten Personen ein Mindestmaß an Auskunft geben. Eigentlich "behaupte" ich ja wenig. Ich versuche, werturteilsfrei zu arbeiten, auch wenn das selbstverständlich letztlich nicht funktioniert: Irgendwo bleibt man immer ein Mensch. Meine Methode kostet natürlich Geld. Abgesehen von den Druckkosten werden die "Schmittiana" aus meiner Tasche finanziert (Telefonate, Korrespondenz, Ablichtungen, Bücher usw.). Dagegen höre ich in Deutschland oft: "Ja, wenn ich ein Forschungsstipendium erhalte, kümmere ich mich drum ..." Ich verstehe das nicht.

Schon seit Ihrem Beitrag für den Speyerer Tagungsband sprechen Sie eigentlich nicht mehr von einer wissenschaftlichen Biographie, sondern – eleganter – von "Bausteinen" hierzu.

Tommissen: Es ist noch zu früh, eine Biographie ins Auge zu fassen. Wir verfügen längst nicht über alle erreichbaren Unterlagen. Man betrachte doch nur die neuen Ergebnisse von Seiberth und Pyta zum Verhalten Schmitts kurz vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Oder nehmen Sie die Frage nach Schmitts Beziehungen zu Kollegen. Da ist noch vieles zu entdecken. Ein weiteres Beispiel wäre die Frage nach dem Verhältnis Schmitts zur Zentrumspartei. Das ist alles längst nicht ausreichend erforscht. Erst kürzlich bin ich zum Beispiel wieder einmal auf weitere Personen gestoßen, zu denen Schmitt Kontakt hatte. Kontakte, die man schlicht nicht für möglich gehalten hätte!

Was fasziniert Sie eigentlich an Carl Schmitt? Der Autor? Oder die Person als ein Schlüssel zum 20. Jahrhundert?

Tommissen: Beides. Aber für mich ist der junge Carl Schmitt der interessanteste. Die staatsrechtlichen Sachen sind nicht mein Gebiet. Mich interessiert das Religiöse und – in hohem Maße – das Literarische. Und natürlich beschäftigen mich die unglaublich weit gefächerten Kontakte und Beziehungen Schmitts.

Im Vorwort zu den "Schmittiana IV" sprechen Sie von der "von mir befürworteten Forschung". Was verstehen Sie darunter?

Tommissen: Der Akzent liegt auf "Forschung". Bei einer so komplizierten Person wie Carl Schmitt brauchen wir die Zusammenfassung eines Höchstmaßes an Informationen. Sonst gelingt nichts. Und da ist es doch eine peinliche Sache, wenn junge Leute – statt über Schmitt zu forschen – Dissertationen gegen Schmitt verfertigen. Einige leben sozusagen von Carl Schmitt. Ihre Karriere beruht auf dem Gegenstand ihrer Mißachtung. Warum forschen diese Leute denn nicht?

Zumal im Feuilleton wird Schmitt gerne mit dem Etikett "Kulturkritik" versehen.

Tommissen: Nein, Kulturkritik ist das nicht. Es handelt sich um Versuche, die gegenwärtige Lage besser zu verstehen. Der Wert dieser Versuche wird gesteigert durch die zahlreichen Impulse, die Schmitt aufnimmt und berücksichtigt. Das reicht bis zu Bakunin. Oder Sorel. Ich besaß ein Heft von Schmitt aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, vollgeschrieben mit Auszügen aus Sorels Schriften.

Carl Schmitt und die sogenannte "Konservative Revolution" – gehört der Staatsrechtler in diesen Kontext politischer Ideengeschichte?

Tommissen: Er gehörte nicht dazu.

Wenn Sie so entschieden verneinen, muß man annehmen, daß er sich Schmitt wahrscheinlich bekreuzigt hätte, wenn er die Fotogalerie auf dem Einbandumschlag der 1989er Ausgabe von Mohlers Bio-Bibliographie gesehen hätte.

Tommissen: Ja. Aber im Grunde rechnet ihn ja auch Mohler nicht wirklich dazu, sondern reiht ihn nur in die Rubrik "Vordenker" ein.

Was sind Ihrer Meinung nach die interessantesten Desiderate der Quellenforschung zu Schmitt?

Tommissen: Sehr wichtig wäre der Briefwechsel zwischen Schmitt und Barion. Aber leider ist es unmöglich, hier Einblick zu nehmen. Bedeutsam wäre auch, die Münchner Zeit während des Ersten Weltkrieges besser zu erforschen.

Anfang 2001 erscheint im Berliner Verlag von Duncker und Humblot der siebente Band der "Schmittiana", mit dem Sie die Reihe einstellen wollen.

Tommissen: Im Prinzip ja. Schon diesen Band habe ich nur noch zusammengestellt, weil Professor Nobert Simon, der Verlagsleiter, mich dazu ermuntert hat.

"Schmittiana" – und was dann? Der Arno-Schmidt- und Carl-Schmitt-Kenner Bernard Willms sagte einmal, so, wie es den "Bargfelder Boten" gebe, müßte man einen "Plettenberger Boten" herausgeben.

Tommissen: Nun, eine Möglichkeit der Fortführung böte vielleicht Antonio Caracciolo, der kürzlich ein internationales Carl Schmitt-Jahrbuch ins Leben gerufen hat.

Also ist die Aufgabe, der sich die "Schmittiana" gewidmet haben, noch nicht erledigt?

Tommissen: Nein. Es muß noch sehr viel getan werden. Aber die Jahre, die mir bleiben, möchte ich auch mit anderen Dingen ausfüllen. Jetzt bin ich – da ist der Kreis fast wieder geschlossen – aufs Neue mit Ernst Jünger beschäftigt. Ich möchte die Geschichte der "Friedensschrift" rekonstruieren. Auch zu seinem Buch über den "Arbeiter" möchte ich noch etwas schreiben. Und zu Friedrich Hielscher. Schon vor zwei Jahren habe ich einen Aufsatz über ihn versprochen. Von einem deutschen Forscher erfuhr ich übrigens, daß ein Autor, der sich sehr scharf zu Carl Schmitt geäußert hat, dem geheimen Orden von Friedrich Hielscher angehörte. Allerdings, Carl Schmitt loslassen kann ich nicht. Dies lassen schon die vielen Leute nicht zu, von denen ich zum Beispiel so gut wie jeden Tag neue Materialien bekomme. Und dann habe ich noch den dritten Teil des Briefwechsels Schmitt – Julien Freund. Der muß ja auch publiziert werden ...

 

Prof. Piet Tommissen in seiner Bibliothek in Grimbergen: Der 1925 geborene flämische Gelehrte studierte an der Wirtschafts-hochschule in Brüssel und an der Jesuiten-Universität in Antwerpen und war über zwei Jahrzehnte als Prokurist tätig, bevor er 1971 mit einer Arbeit über den Soziologen Vilfredo Pareto promovierte. Diese Studie muß als "eines der bedeutendsten, wirklich grundlegenden Werke über den großen Mann ohne Illusion" angesehen werden" (so Günter Maschke in seiner Würdigung Piet Tommissens zum 75. Geburtstag, siehe JF 12/00).Tommissen, der von 1972 bis 1990 an der Handelshochschule Brüssel lehrte, konzentriert sich als Emeritus seit nunmehr zehn Jahren auf die von ihm edierte Reihe "Schmittiana. Beiträge zu Leben und Werk Carl Schmitts".

 

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