© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/00-01/01 22. Dezember / 29. Dezember 2000

 
Licht in der Finsterni
Den tieferen Sinn der Weihnachtsbotschaft haben viele nicht begriffen
Klaus Motschmann

Alle Jahre wieder wird bewegte Klage über die Säkularisierung des Weihnachtsfestes geführt, wobei in erster Linie die "Kommerzialisierung" angeprangert wird. Christus sei nicht in die Welt gekommen, um die Menschen zur Weihnachtszeit in einen Kaufrausch zu versetzen und der Wirtschaft höhere Umsätze zu bescheren, während gleichzeitig Menschen in aller Welt – und zunehmend auch in unserem Volk – soziale und persönliche Not leiden müssen.

Das ist selbstverständlich nicht falsch, aber eben auch nicht richtig. Denn was uns von diesen Bedenkenträgern und Moralaposteln aller Art statt der "großen Freude" an "großen Problemen" nicht nur das ganze Jahr über, sondern auch mit den üblichen Betroffenheitsritualen zu Weihnachten verkündet wird, ist nun erst recht Ausdruck der beklagten Säkularsierung bzw. Ideologisierung des Weihnachtsfestes. Christus ist eben auch nicht als "Anwalt" der Armen und Entrechteten, als "Vorkämpfer" für eine multikulturelle Gesellschaft und soziale Gerechtigkeit, als "Prototyp" des heimatlosen Asylanten oder als "Revolutionär" gegen die bestehende gesellschaftliche Ordnung in die Welt gekommen, als der "gute Mensch von Nazareth", sondern als der Heiland für alle Menschen, die an ihn glauben. Allein in ihm hat uns Gott die Erlösung verheißen, allein in ihm liegt das Heil – und nicht in allen möglichen menschlichen Lösungen. Nicht in der Art und Weise, wie wir Weihnachten feiern und –zugegebenermaßen mehr unbewußt als bewußt – eine Tradition pflegen, die sich der ideologischen Verfügbarkeit entzieht und diese allein dadurch in Frage stellt.

Man lese wieder einmal Erzählungen, Berichte, Briefe oder Lieder aus den katastrophalen Kriegs- und Nachkriegszeiten im Laufe unserer Geschichte, wieviel Trost und Zuversicht, Mut und Orientierung für unser Volk insgesamt, aber auch für viele einzelne Menschen von der Weihnachtsbotschaft ausgegangen ist: Für Soldaten an der Front, für Verfolgte in den Lagern, für die Zivilbevölkerung in den zerbombten Städten oder auf der Flucht, für Schwerkranke, für Vereinsamte und Verzweifelte in vermeintlich auswegloser Situation.

Aus ein paar Bruchstücken der Weihnachtsbotschaft des Lukasevangeliums (Kap. 2) oder einigen Versen aus dem reichen Schatz unserer Weihnachtslieder hat sich für viele Menschen in Grenzsituationen ihres Daseins immer wieder der ganze Sinn der Weihnachtsbotschaft erschlossen: Daß mit der Geburt Christi die große Wende der Zeiten eingetreten ist, die nicht nur jedem Einzelnen oder einem einzelnen Volk, sondern aller Welt die Möglichkeit zu einem neuen Anfang, Weg und Mitte und Ziel menschlicher Daseinsgestaltung weist.

Als ein Beispiel für ungezählte andere sei im Blick auf die "Gebildeten unter den Verächtern der Religion" an eine entscheidende Wende im Leben Fausts erinnert: Vom "letzten, ernsten Schritt" des Selbstmordes ist er in der Osternacht durch das Erklingen eines Chorals abgehalten worden. "Die Botschaft hör ich wohl, allein, mir fehlt der Glaube; / Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind. / Zu jenen Sphären wag ich nicht zu streben, / woher die holde Nachricht tönt: / Und doch, an diesen Klang von Jugend auf gewöhnt, / Ruft er auch jetzt zurück mich in das Leben. /.../ O tönet fort, ihr süßen Himmelslieder! / Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder".

Wie immer man diesen Text interpretieren mag: man kommt nicht um die Tatsache herum, daß er der "holden Nachricht" des Evangeliums eine wundersame Wirkung bezeugt, die sich rationaler Kontrolle und Erklärung entzieht. Das Wunder der Jungfrauengeburt und das Wunder der Auferstehung sind entgegen der Meinung intellektualisierter und ideologisierter Theologen keineswegs Hindernisse zum Verständnis der christlichen Botschaft, sondern ihre notwendige Voraussetzung. Sie erschließt sich freilich nur dem, der die begrenzten Möglichkeiten menschlich-eigenmächtiger Daseinsgestaltung und damit das Unvermögen der Ideologen aller Schattierungen leidvoll erfahren hat.

Unser Volk hat diese Erfahrungen nicht nur in der Geschichte gemacht, es macht sie auch in der Gegenwart reichlich. Die Geschichte ist eben kein selbständiger, nach immanenten Gesetzen ablaufender und deshalb berechenbarer Prozeß, sondern allein von Gott her und auf Gott hin zu verstehen, so wie es der Altmeister der deutschen Geschichtswissenschaft Leopold von Ranke prägnant formuliert hat: "Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott." Das heißt jede Epoche, jede Generation hat seit Jesus Christus die Chance eines neuen Anfangs, weil uns Christus aus den Zwängen innerweltlicher Gesetzmäßigkeiten befreit und eine neue Orientierung im Dunkel der Welt ohne Gott garantiert.

Mit den trefflichen Worten Martin Luthers in seinem schönen Weihnachtslied: "Gelobet seist du, Jesu Christ": "Das ewig Licht geht da herein, / gibt der Welt ein‘ neuen Schein; / es leucht wohl mitten in der Nacht / und uns des Lichtes Kinder macht."

Luther spricht damit wie viele andere Zeugen des christlichen Glaubens vor ihm, neben ihm und nach ihm die zentrale Aussage der Weihnachtsbotschaft an: daß mit Jesus Christus das Licht in die Welt gekommen ist, das alle Finsternis vertreibt. "Ein Licht scheint in der Finsternis, auch wenn sie es noch nicht begriffen hat" (Joh. 1,5).

Licht in der Finsternis bedeutet Orientierung, bedeutet Positionsbestimmung und damit Überwindung der Angst vor Verirrung und Verwirrung – selbst für jene, die dem Licht (zunächst) nicht zu folgen vermögen. Auch sie wissen, in welcher Entfernung zum Licht sie sich befinden, und sie spüren die Dunkelheit und die Verlassenheit, wenn sie sich von diesem Licht entfernen. Gleichsam von selbst stellt sich dann die Frage im Gleichnis von Nietzsches "tollem Menschen": "Stürzen wir nicht fortwährend? Rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittag angezündet werden?" (Fröhliche Wissenschaft, 125)

Laufend werden in unserem Volke und in aller Welt immer neue Laternen "am Vormittag" angezündet, um einen Ausweg aus den Nöten dieser Welt zu finden. Er kann aber nicht gefunden werden, weil das Weihnachtsgeschehen von Bethlehem in seiner ganzen Tiefe noch immer nicht begriffen worden ist – und nach dem Willen unserer One-World-Ideologen auch nicht begriffen werden soll. Denn sie haben die Botschaft sehr wohl begriffen und tun alles, sie für ihre eigenen Zwecke der Legitimation einer multikulturellen Zivilgesellschaft umzudeuten.

Niemand sollte den harten Widerspruch des Evangeliums zu dieser Selbstermächtigung "toller Menschen" herabmindern oder gar bestreiten wollen, auch nicht Weihnachten A.D. 2000.


 
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