© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/00 15. Dezember 2000

 
Abenteuer: Mit Schlittenhunden auf Jack Londons Spuren
Winterträume im Norden Kanadas
Gerhard Willfahrt

Laut ruft es: " Schröder! Ready – let’s go!" Die Fahrt mit dem Hundeschlitten führt durch einen Wald frosterstarrter Pappeln. Die Silhouetten der Äste heben sich silbern gegen das fahle Licht des Mondes ab, der gerade hinter den Wolken verschwindet. Nur das gleichmäßige Hecheln der Huskies und das Kratzen der Kufen ist in den Weiten des kanadischen Nordens zu hören. Hirngespinste entstehen und verschwinden wieder. Reisen ohne Zeitgefühl.

Aber was ist das? In einer Kurve blinkt kurz die Lampe des Vorausfahrenden auf – und .... "Schröööder!" Zu spät. Auf direktem Weg durch Tiefschnee und Unterholz läuft das Pack auf das Licht zu. Nichts kann sie aufhalten! Erst recht nicht der Musher, der Schlittenlenker, der – verzweifelt den Schlitten umklammernd – mitgeschleift wird. Jetzt nur nicht loslassen! Endlich kommt die Meute zum Stehen. Erleichterung! Schneetriefend, Auge in Auge mit den Hunden bekommt man die Antwort auf eine Frage: Können Hunde lachen? Sie können! Schröder, einer der größten Gauner Kanadas, grinst sogar!

Tage später. Zusammen mit Sebastian, Deutschkanadier im Yukon Territorium und anerkannter Chef von über 70 Hunden, fahren wir heute mit den Huskies ins Außencamp am Dezadeash Lake – Goldgräberland zu Füßen des Kluanee National Parks. Heimat der höchsten Berge Kanadas, gewaltiger Gletscher sowie der Indianer vom Stamm der Tutchone. Mit von der Partie sind Katrin, lebensfrohe Berlinerin, und Roman, Glasermeister im Ruhestand aus Graz, der sich hier einen Jugendtraum erfüllt.

Von hohen Schwarztannen umgeben, liegt am Seeufer eine Blockhütte. Durch knietiefen Neuschnee müssen wir uns den Weg zur Tür bahnen. Langsam erhellt eine Gaslampe den Raum mit warmem, gelbem Licht. Konturen werden sichtbar. Die Wände, handbehauene Baumstämme, die Geschichten erzählen könnten. Landestypisch steht mitten im Raum ein mächtiger Yukon-Ofen. Wie aber sind ein Grammophon, ein altes Schifferklavier und andere Kuriositäten in den Busch gekommen? Fast glaubt man, Roulettekugeln und die Jauchzer der Cancan-Tänzerinnen zu hören. Hier läßt Jack London grüßen. Einige Scheite Holz in den gefräßigen Ofen, und bald ist der Raum mit wohliger Wärme erfüllt. "Bier macht den Ochsen stark", brummelt Roman vor sich hin und nimmt vielsagend schmunzelnd einen kräftigen Schluck aus der Flasche: "Jetzt zeigt sich, was wir blutigen Anfänger so drauf haben, wenn wir morgen zu der großen Tour zum Frederic Lake aufbrechen".

Mit ungestümer Energie springen die Hunde während der Startvorbereitungen in die Geschirre. Die Flanken beben, jeder möchte mit. Nur Schröder sitzt scheinbar gelangweilt da und betrachtet mit wachen, listigen Augen das Treiben, als würde ihn das alles nichts angehen. Heute macht der Dezadeash seinem Namen alle Ehre. Übersetzt aus der Sprache der Indianer bedeutet er "Windiger See". Stoßweise fegen Wolken feinster Eiskristalle über das blankgewehte, tiefschwarze Eis. Vor jedem Hindernis teilt sich der Wirbel, um sich dahinter wieder zu vereinen. Nicht jedoch, ohne einige Kristalle zurückzulassen, die dann – zu bizarren Formen verpreßt – dem Wind trotzig Widerstand leisten. Unermüdlich laufen die Hunde mit angelegten Ohren durch diese Schneehölle. Noch einige Kilometer bis zur Einmündung des Kluhini River führt der Trail über den See, bis wir endlich wieder Schnee unter den Kufen haben.

Mittagspause. Abseits des festgefahrenen Trails versinken wir bis zu den Hüften im Tiefschnee. Doch die verschmusten Huskies fordern, jeder für sich, ausgiebige Streicheleinheiten. Weiter geht die Fahrt in engen Kurven durch ein Tal. Fahrspaß pur. Mal bergauf, mal bergab über flache Hügel und steinhart gefrorene Sümpfe. Wo sonst erlebt man noch solch harmonische Einheit zwischen Mensch und Tier ohne Hektik und Streß! Das Fieber hat uns voll gepackt. Hier auf dem alten Indianerpfad zum Frederic Lake sieht man über 100 Jahre alte "Blazes", Axtmarkierungen an den Bäumen. Sebastian stoppt sein Gespann. Voraus eine mehrere hundert Meter lange Eisplatte. Aus einer Quelle, die auch im Winter nicht gefriert, ist diese meterdicke, gewaltige Rutschbahn gewachsen. "Überlaßt alles nur den Hunden. Vertraut ihnen!" ruft er uns noch zu und fährt voraus. Katrin mutig hinterher. Roman, ein Bär von einem Mann, zögert noch einen Moment, ruft aber dann einem Kampfschrei gleich: "Bier macht den Ochsen stark!" und fährt auch los. Vertrauen – ihm? Aber es gibt keine Wahl. Fuß runter von der Schlittenbremse und los. Seitlich versetzt rutscht der Schlitten wackelig über das Eis. Der Mensch kann jetzt nur hoffen und versuchen, das Gleichgewicht zu halten. Die Hunde krallen sich mit den Pfoten in das Eis und geben ihr bestes. Unvermittelt taucht vor dem Schlitten eine Vertiefung auf, der Schlitten droht abzurutschen und umzukippen. Doch Schröder reagiert und macht Tempo. Wer hätte das gedacht! Mit Schwung ziehen die Hunde den Schlitten wieder in Fahrtrichtung. Noch zwei, drei kritische Stellen und wir sind durch.

Inmitten dichter stehender Bäume liegt langgezogen der Frederic Lake auf einer Hochebene. Das Licht der Abenddämmerung färbt die baumlosen Gipfel der Coastal Mountains in ein einheitliches Purpur. Ein Platz der Kontraste, der eine ungewöhnliche Ruhe ausstrahlt. Am Ufer steht ein weißes, mannshohes Trapperzelt, aus dem ein rostiges Ofenrohr ragt. Unser Nachtquartier. Im letzten Tageslicht versorgen wir die Hunde und graben vor dem Zelt eine Feuergrube in den Schnee. Es gibt Fondue. Lange sitzen wir am Feuer und lauschen gespannt Sebastians Erzählungen. Es geht um das Leben im Norden, den besonderen Menschschlag, der hier lebt, und seine Erlebnisse während des legendären Yukon Quest, eines 1.600 Kilometer langen Schlittenhunderennens.

Plötzlich beginnen die Hunde im Chor mit gestreckten Hälsen in den Nachthimmel zu heulen. Dort tut sich Erstaunliches. Ein zartes, flackerndes Licht schwebt in Wellenbewegungen über den Horizont. Gerade so, wie wenn ein Seidenvorhang durch ein geöffnetes Fenster vom Wind gestreichelt wird. Die Farben wechseln mal abrupt, mal fließend zwischen zartem Grün, Rot und Weiß. Die Umrandungen des Lichtscheins leuchten heller, um dann Augenblicke später wieder auseinanderzu- driften und zu verblassen. Nordlicht!

Andächtig beobachten wir minutenlang das Schauspiel, bis es immer mehr verblaßt und schließlich ganz verschwindet. Langsam kriecht jetzt die Kälte in die Knochen, und es wird Zeit für den Schlafsack. Doch vorher gehe ich mit dem übriggebliebenen Fleisch zu den Hunden. Einer bekommt besonders große Brocken ...


 
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