© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/00 15. Dezember 2000

 
Europa steht auf tönernen Füßen
von Johanna Christina Grund

Der nach vier streitumtosten Verhandlungstagen und einer "Nacht der langen Messer" im Kongreßpalast "Akropolis" von Nizza herbeigezwungene Kompromiß schickt die Völker Europas, soweit sie der EU angehören oder künftig angehören sollen, auf den Weg in ein Viertes Reich. Der Größenwahn einer riesenhaften Wohnkommune mit gemeinsamen Regeln und gegenseitigen Abhängigkeiten beseitigt die Handlungsfreiheit vieler selbständiger Familien in ihren eigenen Häusern. Im Ergebnis von Nizza ist die Strategie des Umzugs weiterer Eigenheimbesitzer in den monumentalen Plattenbau erkennbar, der sich "Haus Europa" nennt.

Die wegen ihrer starken institutionellen Überfrachtung seit Monaten mit dem Ritual eines drohenden Scheiterns bei nationalem Selbstbewußtsein eingeübte Konferenz der 15 Regierungschefs der EU-Staaten mußte zwangsläufig zu einem Ergebnis kommen, und sei es auch nur ein Kompromiß auf allerkleinstem gemeinsamen Nenner. Denn mit dem Umstieg von wirtschaftlichen auf politische Ziele spätestens 1992 in Maastricht sind die Politiker in einer Geisterbahn abgefahren, deren Türen zum Ausstieg sich nicht mehr öffnen lassen. Sie müssen, auch wenn unter den Insassen gestritten und getobt wird, bis zur Endstation mitfahren, falls nicht ein Ereignis von außen die Reise abbricht. Denn ihre Völker, deren Freiheit sie per Schwur eigentlich bewahren und von denen sie Schaden abwenden sollen, nehmen die Politiker auf diesem Transit ins Niemandsland mit.

Wer "Nizza" und die verkündete Einigung am Montag um 4.30 Uhr erklären will, muß diese visionären Grundlagen der angestrebten europäischen Integration jeder Analyse voranstellen. Sonst bleibt dieser Aktionismus einer kleinen, aber fanatisch beseelten Elite von Technokraten unverständlich. Es ist der Traum vom Reich, von der Beseitigung der in selbständigen Staaten organisierten Nationen des Kontinents und von deren Vermischung. Nach dem Scheitern aller drei bisherigen Reiche, teils durch Krieg geschaffen, teils durch Krieg zerbrochen, steht nun der vierte Versuch an. Dieses Unternehmen erscheint den betroffenen, wie früher auch nicht gefragten Völkern in demokratischem Pelz, nutzt ihre Lethargie mit sanfter Gewalt, führt aber letztlich auch zur Diktatur. Wenn die Völker dies begreifen, ist es schon zu spät.

Daß der Gipfel von Nizza unter französischer Ratspräsidentschaft überhaupt diese Brisanz erreichte, liegt im Eifer von zehn gerade erst dem Kommunismus entronnenen Staaten Mittel- und Südosteuropas sowie der mediterranen Inselrepubliken Zypern und Malta begründet, durch Finanztransfers aus dem Westen zu Wohlstand zu gelangen und in der warmen Geborgenheit des Kuschelbettes der EU nach "Europa" heimzukehren. Welche Unterwerfung sie politisch dort erwartet, ahnen zumindest einige der Liebeswerber, wollen dies aber nicht wahrhaben. Die "Osterweiterung" der Union von jetzt 15 auf irgendwann nach 2010 dann 27 und mit der Türkei sogar 28 Mitglieder mit Grenzen zur arabischen Welt, zur russischen Föderation und auf See zu Afrika und der Nordamerikanischen Freihandelszone, mit an West-Berlin erinnernden Inseln der Freiheit namens Schweiz, Liechtenstein, Norwegen und Island mittendrin, erfordert einen anderen Steuerungsmechanismus des Riesen. Er funktioniert nur mit mehr Kommandogewalt und weniger mitbestimmendem Eigensinn seiner Passagiere.

Die Dreh- und Angelpunkte der Konferenz heißen deshalb erstens Beschränkung der Zahl der Kommissare bei Neuzutritt von Aufnahmekandidaten, zweitens Veränderung der Stimmengewichtung im Ministerrat, drittens Abschaffung des Vetorechts eines einzelnen EU-Landes zur Wahrung lebenswichtiger Interessen und Ersatz durch Mehrheitsentscheidungen, viertens Annahme der von einem Konvent im Hinterstübchen aufgestellten Grundrechtecharta, fünftens Neufassung des Artikels 7 des Vertrages von Amsterdam, der sogenannten "Lynch-Mobbing-Klausel" zur Abstrafung ungehorsamer "Familien"-Mitglieder und sechstens Bestätigung der militärischen Komponente der EU mit Aufstellung einer Eingreiftruppe von 60.000 Mann bis 2003, später 200.000, die zu "friedenschaffenden Einsätzen" geschickt werden und dort zuschlagen sollen. In Wirklichkeit wird diese Landsknechts-Armee, waffentechnisch am Infusionsschlauch der Nato hängend, wie einstmals der Warschauer Pakt in Prag einmarschieren und Ordnung schaffen, wenn künftig irgendwo im Inneren des "Reiches" eine Volkserhebung für Wiedergewinn der Selbständigkeit oder für eine Verbesserung der sozialen Lage ausbricht. Dies wird unter der euphemistischen Losung "Abwehr eines faschistischen Umsturzes zur Rettung der Grundwerte der Union" erfolgen. Der neue Artikel 7 könnte dazu sogar die rechtliche Handhabe bieten, obwohl er solche Willkür, wie im Februar gegen Österreich losgelassen, ausschließt. Er greift nur, wenn 90 Prozent aller Stimmen im Ministerrat eine "Gefährdung des Wertesystems der Union" erkennen und unabhängige Inquisitoren zum "Bösewicht" geschickt worden sind und die "Gefahr" bestätigt haben.

Der bundesdeutschen Delegation ging es außerdem um eine Nachfolgekonferenz zu Nizza als Fortsetzung des Reformprozesses im Jahre 2004. Umtost von etwa 60.000 Straßendemonstranten aus verschiedenen Ländern, die gegen die Globalisierungsfolgen der Wirtschaft, für stärkere Arbeitnehmerrechte, kurzum für ein "soziales Europa" auftraten, begann der Gipfel am 7. Dezember mit den leichten Punkten der Traktandenliste. Die Politiker drinnen blieben von den Forderungen der Wütenden draußen unberührt, denn sie verstanden natürlich nicht, daß die Manifestanten für ein Europa stritten, das ihnen die EU niemals wird bieten können, für ein Europa, in dem die Einzelstaaten von gestern so viel Gesetzgebungsmacht besaßen, um internationale Konzerne an der Vernichtung des beschäftigungsintensiven heimischen Mittelstandes durch größere Finanzmacht und infolge offener Grenzen zu hindern. Im "Europa von Nizza", so es denn kommen und längere Zeit herrschen würde, hat der einzelne Bürger weniger Rechte als je in einer Diktatur, weil er in einem Gesetzes-Labyrinth sondergleichen und in Regelungsmechanismen gefangen ist, die er aufgrund der Größe und Ausdehnung gar nicht mehr durchschauen kann. Die Volksrechte sind minimiert.

Den von Wirtschaftsinteressen getriebenen und auch weitgehend abhängigen politischen Verhandlern geht es beileibe nicht nur um die Vereinigung der einstigen Ostblockländer mit "Europa". Zu Europa gehörten sie immer, auch in der schlimmsten Zeit kommunistischer Tyrannei. Es geht den Politikern als den intensivsten Fürsprechern der Osterweiterung um die Expansion westeuropäischer Konzerne nach Polen, ins Baltikum, nach Ungarn, Tschechien usw., um dort unter eigenen Regeln, nicht denen des Standortes, die heimische Wirtschaft zu übernehmen und den "lebensunfähigen" Mittelstand plattzumachen. Die Kandidaten werden sich noch wundern. Der Wohlstand, den sie mit fremdem Geld schaffen wollen, wird sie in neue Knechtschaft stürzen.

14 Mitglieder der EU, die neun Monate lang die bilateralen Sanktionen gegen Österreich praktizierten und damit scheiterten, weil die von ihnen bekämpfte Regierung noch heute im Amt ist, erklärten ihr seltsames Vorgehen stets mit der Wahrung eines Wertesystems der Union. Nun aber scheiterte die Grundrechtecharta fast am Widerstand Großbritanniens und Dänemarks, denen die Vorschriften zu weit gingen und als Verfassungsersatz dienen könnten. Es kam in Nizza nur zur Proklamation. Die Charta ging aber nicht in die Verträge ein und wurde somit auch nicht rechtsverbindlich.

Für Deutschland wäre der Eingang dieser Charta in EU-Recht nur hilfreich gewesen, was die Artikel 10 bis 13 betrifft. Sie fassen das Recht auf Meinungsfreiheit, auf unbehinderte Forschung und Lehre ohne jede Einschränkung durch politische Strafgesetze und hätten damit den politischen Prozessen mit gummiartiger Tatbestandsauslegung in der Bundesrepublik, deren Tendenzurteile so viel Leid über Wissenschaftler und Publizisten bringen, ein Ende bereitet.

Jeder Beobachter wird den kleinen EU-Staaten bescheinigen, daß sie sich heftig gegen zwei französische Entwürfe zur Institutionenreform wehrten, also keine Lust auf Harakiri hatten. Welchen Kompromiß auf kleinstem gemeinsamen Nenner sie schließlich auch erstritten, ihr Einfluß wird bei Annahme des Vertrages geringer, ihre Möglichkeit, etwas im normalen Entscheidungsprozess zu verändern, nimmt mit der neuen Stimmengewichtung ab. Die vier Großen verlieren zwar ab 2005 einen ihrer beiden Kommissare. Die Regel "je Land ein Kommissar" gilt aber nur bis zum Beitritt des 27. Mitgliedes. Dann wird die Kommission reduziert, wobei es Länder geben wird, die für eine Wahlperiode gar nicht vertreten sind. Gerade das aber wollten die Kleinen verhindern. Die Niederlage ist nur verschoben.

Wie im Frühjahr 1999, als Bundeskanzler Gerhard Schröder mit seiner großmäuligen Forderung bei den Partnern auf die Nase fiel, Deutschland wegen der horrenden Summe von 22 Milliarden Mark Nettozahlungen jährlich an die EU erst um 14 Milliarden, dann wenigstens um 7,5 Milliarden zu entlasten, scheiterte er nun in Nizza mit dem Verlangen nach einem höheren Stimmengewicht gegenüber Frankreich im Ministerrat wegen der um 23 Millionen grösseren Einwohnerzahl von 82 gegenüber 59 Millionen. Frankreichs Präsident Chirac aber blieb hart, verwies auf die Geschichte und auf angebliche Übereinkommen de Gaulles mit Adenauer ohne Beweis. Schröder/Fischer fielen wieder um. Das Nachgeben stellt eine derartige Blamage der deutschen Regierung dar, daß "Nizza" eigentlich schon deshalb abzulehnen wäre, hätte das Volk hierzulande etwas zu sagen. Aber das Volk wird gar nicht erst gefragt.

Der dritte Entwurf, der am Montagmorgen angenommen wurde, billigt Deutschland mit 29 Stimmen nur genausoviel zu wie Frankreich, Großbritannien und Italien auch. Spanien und später Polen räumt die neue Regel 27 Stimmen ein, obwohl diese nur 39 bzw. 38 Millionen Einwohner haben. Die EU-15 verfügen danach künftig über 233 Stimmen, die EU-27 zusammen über 341 Stimmen im Rat. Als Ausgleich für den Verlust eines Kommissars wurde das Gewicht der Großen insgesamt gestärkt, denn außerdem soll ein Beschluß mindestens 62 Prozent der Gesamtbevölkerung repräsentieren, die die Kleinen nur mit großer Mühe, wenn überhaupt aufbringen können. Denn aufgrund der Sperrminorität von 91 Stimmen gegen eine qualifizierte Mehrheit von 73 Prozent genügen drei große Länder und ein kleines, um auch einen Beschluß von 249 Stimmen zu blockieren. Das ganze System droht eher noch komplizierter zu werden, als es bisher schon ist. In jeder Ratssitzung werden künftig Mathematiker mit elektronischen Datenrechnern die einzelnen Mehrheiten und ihre Wirkungen ermitteln müssen. US-amerikanische Auszählungsverhältnisse drohen. Das Zugeständnis der Franzosen, bei der Begrenzung der Abgeordnetenzahl im Europa-Parlament auf 738 nun die 99 Mandatare ungekürzt zu belassen, wiegt nicht das Mißverhältnis der Stimmengewichtung auf. Wieder mußte festgestellt werden, daß Deutschland in der EU noch immer nicht als normales Land gilt, daß seine Partner Zugeständnisse bei Zahlungsverpflichtungen ebenso erwarten wie Nachgiebigkeit bei der Wahrnehmung von Rechten, die sich aus der Größe ergeben. Das wird auch so bleiben, solange deutsche Politiker nach innen den Tiger und nach außen die Schnurrkatze spielen, solange nationaler Masochismus peinlichster Art den deutschen Alltag regiert.

Die anderen Länder verstanden es vehement, ihre Interessen vor allem bei der Wahrung des Vetorechtes zu verteidigen. In dieser Frage haben sich nationale Belange am deutlichsten gegen den Versuch der Entmündigung zum Nutzen der Beschlußfähigkeit durchgesetzt. Denn wer aufgrund geringer Stimmenzahl schon fürchten muß, ständig Mehrheitsentscheidungen zum Nachteil des eigenen Landes den Wählern daheim erklären und gegen sie durchsetzen zu müssen, klammert sich an das Veto wie der Ertrinkende an einen Strohhalm.

73 Themenkreise mit 90 Bestimmungen standen zur Disposition, um die Einstimmigkeit abzuschaffen. Nur 35 Artikel aber dürfen künftig mehrheitlich entschieden werden. In allen anderen Politikfeldern bleibt es bei nationalem Veto. So erhält das größte Empfängerland Spanien die Zusage, daß sein Veto bei der Vergabe von Finanzhilfen an strukturschwache Länder und Regionen erst 2007 fällt. Deutschland konnte hier seine Forderungen durchsetzen. Im Bereich des Vetorechtes bleiben Fragen der Kultur im audiovisuellen Bereich, ebenso der Asyl- und Einwanderungspolitik bis zum Jahr 2004, wenn zuvor einstimmig gemeinsame Grundregeln insbesondere einer gerechteren Lastenverteilung geschaffen wurden. Österreich setzte das nationale Veto im Wasserrecht, in der Raumordnung und im Transitverkehr ebenso durch wie Großbritannien in allen Fragen der Sozialpolitik und im Steuerrecht, wo Luxemburg aus gutem Grund, Irland und Schweden zusammen mit den Briten eine konzessionslose Haltung erfolgreich durchhielten.Schließlich muß Premierminister Tony Blair im Frühjahr 2001 eine Wahl ausfechten und könnte sich schon im Hinblick auf die verbreitete EU-Gegnerschaft in Großbritannien gar nicht leisten, als Versager heimzukehren.

Leichter wird es für jene Länder werden, die noch rascher als der große Troß alle nationalen Autarkien von sich werfen und ins Nirwana des europäischen Koitus eingehen wollen. Sie benötigen nicht mehr die Zustimmung aller anderen Hausbewohner, sondern brauchen diese Absicht nur dem Rat und der Kommission anzuzeigen.

Durchgesetzt hat Gerhard Schröder schließlich seinen Willen, als Teil des "Post-Nizza-Prozesses" eine weitere Reformkonferenz 2004 einberufen zu lassen, wo erstens die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Brüssel, den Mitgliedsstaaten und den Regionen erfolgen soll (bezeichnenderweise ist nicht mehr von Bundesländern die Rede), wo zweitens der künftige Status der Grundrechtecharta festgelegt werden soll, wo drittens die bestehenden Verträge klarer und verständlicher abgefaßt werden sollen, ohne den Inhalt zu ändern, und wo viertens die Rolle zu klären ist, die die nationalen Parlamente in Zukunft überhaupt noch spielen sollen.

Alles aber nach Nizza stellt eine Gleichung mit mehreren Unbekannten dar. Noch besitzen die nationalen Parlamente, wenn sie nur genügend Verantwortung vor dem eigenen Volk zeigen, eine Sperrfunktion gegen jede staatliche Selbstaufgabe und in der Bundesrepublik gegen jeden Selbstmord der Bundesländer als Fundament des föderalen Systems. Sie müssen den Vertrag von Nizza alle erst ratifizieren, ehe er rechtskräftig werden kann. Widerstand dürfte dort zu erwarten sein, wo wie zum Beispiel in Dänemark zusätzlich das Volk gefragt werden muß. Auch läßt sich heute nur schwer voraussagen, in welchem Zustand sich die Union 2004 oder nach Aufnahme neuer armer Mitglieder befinden wird. Die Kostenfrage wird dann neben der Funktionsfähigkeit der soeben beschlossenen institutionellen Reformen in den Mittelpunkt treten. Hinzu kommt, daß der Verfall des Euro als Folge der mißachteten Konvergenzkriterien von 1998 dann schon fortgeschritten sein und eine neue Schuldenkrise der dem Euro angeschlossenen Länder sein Ende zwischen 2005 und 2007 beschleunigen wird.

In diesen Tagen und Wochen vor der Jahreswende rettet sich die Union von Gipfelkonferenz zu Gipfelkonferenz. Aber der mit Ausnahme des am weitesten vom aufrechten Nationalbewußtsein entfernten deutschen Mitgliedes beständige Wille vieler anderer Partner, konsequent ihre völkischen Interessen zu vertreten, schafft einen permanenten Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Den entscheidenden Anstoß zur Befreiung vom Zwang und zur Rückbesinnung auf Heimat und Vaterland können nur die Völker selbst geben, indem sie gegen die ihnen verordneten Regeln der Vermassung aufstehen. Solange das nicht geschieht, werden die Visionäre ihren Traum vom Vierten Reich weiterverfolgen. Aber plötzlich wird alles zu Ende sein.

 

Johanna Christina Grund gehörte von 1989 bis 1994 für die Republikaner, dann als parteilose Abgeordnete dem Europäischen Parlament an.


 
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