© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/00 15. Dezember 2000

 
Erbitterter Deutungskampf um "Barbarossa"
Überfall, Angriff, Präventivschlag: Ein neuer Beitrag zur Kontroverse über die Ursprünge des deutsch-sowjetischen Krieges
Dag Krienen

Gelegentlich geht es Buchautoren wie Filmproduzenten. Sie bringen ein Werk heraus, das ein Furioso neuer Ideen und Perspektiven enthält. Der durchschlagende Erfolg, den sie damit erzielen, verführt sie dazu, Fortsetzungen folgen zu lassen, die das ursprüngliche Muster nur wenig variieren und deshalb von Mal zu Mal an Neuheit, Qualität und Reiz verlieren. Das trifft auch im Fall des vorliegenden Buches zu, das, wenn es ein Film wäre, wohl einfach einen Titel tragen würde wie "Stalin’s Great Coup III", vielleicht noch mit einem Untertitel wie "The Lost Victory". Leider ist bei Büchern ein solches Verfahren der Betitelung noch nicht üblich, was dem Leser manche Chance zur Frühwarnung raubt.

Tatsächlich serviert Suworow thematisch einen Aufguß seiner alten Werke "Der Eisbrecher" (1989) und "Der Tag M" (1995), wenn auch mit inhaltlichen Variationen. Der – wie gewohnt – flüssige Erzählstil verbindet sich so gelegentlich noch mit reizvollen neuen Einzelheiten, doch die aufgesetzte Naivität bei der argumentativen Entfaltung der immer gleichen Thesen langweilt mittlerweile doch sehr. Auch seine zentrale These stellt nicht gerade eine umwerfende Innovation dar: Stalin plante demnach im Sommer 1941 eine gigantische Militäroffensive zur Eroberung des nichtrussischen Europas, wo ihm nur noch ein einziger ernsthafter Gegner gegenüberstand, eben jene deutsche Wehrmacht, die ihm dadurch einen Strich durch die Rechnung machte, daß sie wenige Wochen früher ihrerseits angriff.

Ebenfalls keine Überraschung bietet die Tatsache, daß bei Suworow ein durchaus chauvinistischer Stolz auf russische Militärtraditionen durchbricht – zum Beispiel im Kapitel über den sowjetisch-finnischen Winterkrieg ("Es gab nur eine Schlußfolgerung aus den Kampfhandlungen in Finnland. Für die Rote Armee war nichts unmöglich") oder über die Luftlande-Kapazitäten der sowjetischen Luftwaffe: "Dem, der daran erinnert, wie viele Flugzeuge die Amerikaner für die Einsätze ihrer Fallschirmjäger benötigten, antworte ich: ‘Sind wir etwa Amerikaner?’"

Für Suworow wollte Stalin die sozialistische Weltrepublik

Bereits der aufmerksame Leser des "Eisbrechers" konnte 1989 bemerken, daß die Aufzählung jener Fakten, mit denen Suworow einen Offensivaufmarsch der Roten Armee im Sommer 1941 belegen wollte, ihm zugleich dazu diente, zu erklären, warum die Wehrmacht nach dem 21. Juni zunächst so große Erfolge erringen konnte. Denn alle Vorteile, die die an sich weit überlegene sowjetische Armee gegenüber der deutschen besaß, wurden, so die offensichtlich tiefsitzende Überzeugung Suworows, durch ihre ausschließlich offensive Ausrichtung, die gerade im riskantesten Moment des Aufmarsches vom deutschen Angriff getroffen wurde, in ihr Gegenteil verkehrt. Aufgrund der Besessenheit ihres Führers wurde so die unermeßliche Stärke des russischen Militärs zum Quell einer fatalen, fast letalen Schwäche.

Und dieses Verhältnis von Führer und Armee im russischen Fall ist es, das Suworow (ähnlich den Memoiren deutscher Generäle in den fünfziger Jahren, die von "(nicht) verlorenen Siegen" träumten, wenn nur der "Führer" nicht gewesen wäre) umtreibt – will man ihm nicht ein ausschließlich kommerzielles Interesse angesichts der bisher erzielten Absatzerfolge unterstellen. Das einzig neue Argument des Buches soll jedenfalls vor allem einen Zweck erfüllen: jene "Besessenheit" Stalins zu erklären, die alle russische Größe so zuschanden werden ließ. Denn ein zynischer Realpolitiker, der skrupellos eine einmalige Chance zur Verbreiterung der eigenen territorialen Machtbasis nutzen wollte, war Stalin für Suworow nicht. Vielmehr unterstellt er ihm ein "weltrevolutionäres" Grand Design als Motiv, für das nun die Stunde gekommen war.

Dieses schon im "Eisbrecher" präsentierte Motiv genügt Suworow allerdings nicht zur Erklärung jener fatalen Offensiv-Besessenheit des großen Führers der Weltrevolution. Er sucht nach einem letzten, fast vernünftigen Grund, quasi einer objektivenNotwendigkeit zu einem, (dann verhinderten) "Erstschlag". Den findet er bei der Betrachtung der weltbewegenden Frage, warum 1945 Stalin die Siegesparade der nun nach großen Opfern so glorreichen Roten Armee in Moskau nicht höchstpersönlich, auf einem Schimmelhengst sitzend, vor der Front seiner Truppen abgenommen hat. Die Antwort, daß Stalin nicht reiten konnte, ist ihm offensichtlich zu banal. Suworow besteht vielmehr darauf, daß der "Sieg" von 1945 für Stalin kein Sieg, sondern nur der Beginn der Niederlage war, weil nur das halbe und nicht das ganze Europa (und Afrika) erobert werden konnte. Denn, so projiziert Suworow die Erfahrungen der achtziger Jahre ein halbes Jahrhundert zurück, Stalin sei klar gewesen, daß ein sozialistischer Staat auf Dauer keinen Bestand haben könne, solange seine Bürger noch andere Staaten vor Augen hätten, die zeigten, daß es auch anders, kapitalistischer, d.h. wohlstandsgesättigter und freier als bei ihnen zu Hause zugehen könne. Die einzige Lösung dieses Dilemmas bestand darin, diese Vergleichsmöglichkeit auszuschließen – indem das Pluriversum der bisherigen Staatenwelt mit Hilfe geeigneter Befreiungsaktionen der Roten Armee durch die eine sozialistische Weltrepublik abgelöst werden sollte.

Der 1939 ausgebrochene Krieg bot die Gelegenheit, dieser streng notwendigen Vorbedingung des sozialistischen Staatserhalts zu entsprechen und durch die Eroberung Europas und seiner Kolonien (zu letzterem sollte die übergroße Zahl von sowjetischen Fallschirmverbänden hauptsächlich dienen, wie Suworow nun herausgefunden zu haben glaubt) zumindest eine Vorentscheidung zu fällen. Das halbe Europa von 1945 war da nicht gut genug, für einen solchen Pyrrhussieg wollte der große Führer der Völker nicht auf ein Pferd steigen. Er ließ Marschall Schukow die Parade abnehmen, gab die Hoffnung auf Weltrevolution und langfristigen Bestand der UdSSR auf, zog sich trotz seiner Resignation aber leider nicht völlig zurück, sondern tyrannisierte für den Rest seines Lebens – wohl zum Ausgleich – die alten und die neu gewonnenen Untertanen. Und das alles, weil der als "Eisbrecher" eingeplante Hitler seine an sich minderwertige Wehrmacht ein paar Wochen zu früh losgeschickt und dadurch die überlebensnotwendige Weltrevolution erstickt hatte – und so nicht nur wie König Kroisos von Lydien sein eigenes Reich zerstörte, sondern langfristig auch das, das er 1941 eigentlich im Auge hatte.

Wie man sieht, gehorcht Suworows Buch dem Gesetz der abnehmenden Qualität von Fortsetzungsfilmen, in denen Neues nur noch um den Preis des Abstrusen zu haben ist. Wenn ein Nichthistoriker wie Ernst Topitsch zum Beispiel eine zwar hochspekulative, aber doch immerhin durch Quellenstudium gestützte und insofern legitime Hypothese über die sowjetische bzw. Stalinsche Langzeitstrategie publiziert, kann diese im Kontext der historischen Wissenschaften methodisch und inhaltlich kritisiert, widerlegt, verifiziert oder auch modifiziert werden. Suworows Allerweltsar-gumente über die überlegene Funktionsweise des Kapitalismus und die daraus resultierende Notwendigkeit der sozialistischen Welteroberung bieten dafür allerdings keinen Ansatzpunkt mehr. Vielleicht glaubt er, gerade dadurch den Fachhistorikern unendlich überlegen zu sein, wie seine wiederholten Invektiven gegen die "Historiker" im "Verhinderten Erstschlag" zeigen. Historiker ist Suvorow wahrhaftig nicht, vielmehr nur ein "Indizien-Klauber". Soll heißen: Der ehemalige KGB-Mann, der sich hinter dem Pseudonym Suworow verbirgt, versteht es durchaus, Details zusammenzutragen und zu analysieren, aber aus der Summe der Details die Zusammenhänge zu mehr als einem grobschlächtigen und spekulativen Gesamtbild zusammenzutragen, überschreitet seine Kompetenzen (und gehörte wohl auch in seiner vormaligen "Dienst"-Stellung nicht zu seinen Aufgaben). Das macht es den Historikern vom Fach oft allzu leicht, seine Werke als billige Schundproduktionen abzutun.

Das ist insofern schade, weil Suworow als Indizien-Aufspürer durchaus seine Stärken und Meriten hat, wenn auch diese in der Folge seiner Trilogie immer geringer werden. Der "Eisbrecher" war vor gut zehn Jahren ein so durchschlagender Erfolg, weil darin eine Fülle von Details zusammengetragen wurden, die alle darauf hinwiesen, daß die Rote Armee 1941 weder nichtsahnend war, noch sich – wenn auch unzulänglich – auf die Verteidigung der Sowjetunion vorbereitete. Worauf sie sich vorbereitete, waren vielmehr offensive Operationen tief ins Feindesland hinein – ein Sachverhalt, um dies vorwegzunehmen, der eine militärisch-operative Option umschreibt, nicht aber zwangsläufig eine strategisch-politische Entscheidung zum unprovozierten Angriffskrieg. Letzteres nachzuweisen war Suworow schon damals bei allem Bemühen nicht möglich – nicht nur wegen der Natur seiner Quellen und Indizien, sondern auch aufgrund seiner begrenzten analytischen Fähigkeiten.

"Glück gehabt" als historische Basis des freien Europas

Leider bemüht er sich im letzten Band seiner Trilogie verstärkt darum, diese Grenzen zu ignorieren, und produziert einen entsprechend grenzenlosen Schwachsinn. Von jenen Indizien-Edelsteinen, die er hingegen durchaus zu finden versteht, liefert er im "Verhinderten Erstschlag" nur noch wenige, wie jenen 1941 massenhaft gedruckten deutsch-russischen militärischen Sprachführer (im Anhang des Buches ausschnittsweise reproduziert), der offensichtlich zur Orientierung der Soldaten auf deutschsprachigem Gebiet dienen sollte (vielleicht im Zuge eines strategischen Rückzuges bis zur wolgadeutschen ASSR?). Solche Indizien wie auch der – nicht ganz neue – Hinweis auf massenhaft in Grenznähe gelagerte Vorräte an topographischen Karten, die allesamt beim deutschen Angriff verlorengingen, sind jedoch die eigentlichen Steine des Anstoßes, die manchem Historiker schwer im Magen liegen könnten, wenn es ihm Suworow mit seinen Ambitionen auf den Posten eines "Überhistorikers" nicht so leicht machen würde, sie zu ignorieren. Solche Schwächen der Folge III von "Stalin’s Great Coup" lassen leider kein anderes Urteil zu: Gerade um der Sache willen, die es zu vertreten meint, wäre dieses Buch besser nie geschrieben worden und hätte auf deutsch schon gar nicht in einem Verlag, der sich "Pour le Mérite" nennt, erscheinen dürfen.

Man kann eine Rezension über einen mit dem Untertitel "Hitler erstickt die Weltrevolution" ausgestatteten Fortsetzungsroman nicht abschließen, ohne einige Bemerkungen zu der "Präventivkriegsdebatte" zu machen, in der Suworows Werke eingebettet sind. Der Rezensent hat bereits zu Beginn dieser Debatte in zwei Sammelbesprechungen in der Etappe (8/1992 und 9/1993)davor gewarnt, die Diskussion unter diesem Begriff zu führen. Sein Hauptargument war und ist, daß jedenfalls auf deutscher Seite weder Hitler noch die Wehrmachtsführung das Unternehmen Barbarossa als Präventivkrieg im eigentlichen Sinne auffaßten, d.h. als angriffsweise Verhinderung eines unmittelbar bevorstehenden gegnerischen Angriffs. Leider war für zu viele die Versuchung zu groß, dem volkspädagogisch aufgebauschtem Mythos von der im Sommer 1941 unschuldig überfallenen Sowjetunion damit zu Leibe zu rücken. Sie stellten sich dadurch auf einem Begriffs-Feld zur Schlacht auf, auf dem die interessierte Gegenseite nur gewinnen konnte, und letztere ließ es sich auch nichts nehmen, möglichst alle Zweifler am friedliebenden Charakter der Sowjetunion oder doch am eindeutigen "Angreifer Hitler – Angegriffener Stalin"-Schema als "Präventivkrieger" zu charakterisieren.

Die Gegenseite so zu schmähen hat indes allein den Zweck, die Augen der Öffentlichkeit und wohl auch die eigenen vor einem Anblick zu verschließen, dessen bloße Möglichkeit zu irritierend ist, um volkspädagogisch noch verarbeitet werden zu können. Denn wie soll vermittelt werden, daß Hitler vielleicht tatsächlich die Weltrevolution erstickte – nicht präventiv, sondern durch eben den imperialistischen und rassistischen Eroberungskrieg, als der "Barbarossa" – ob aus Motiven der Ideologie oder der Raison d’État, sei hier dahingestellt – geplant und durchgeführt wurde.

Der Begriff "Präventivkriegsdebatte" suggeriert, daß es darum ginge, die Position von Angreifer und Verteidiger zu vertauschen. Aber die eigentliche Provokation enthält schon die weder von Suworow bewiesene noch von anderen widerlegte These, daß Stalins Sowjetunion sich im Sommer 1941 ebenfalls auf eine Offensive in größtem Maßstab in Richtung Westen vorbereitete. Träfe dies allerdings zu, ergäbe sich eine "unerträgliche" Konsequenz: Der brutalste und blutigste aller Hitlerschen Kriege – nie als Präventivkrieg gedacht, sondern zur Unterjochung imperialer Räume, und unermeßliche Zerstörungen sowie das Ende des Reiches mit sich bringend – wäre dennoch Voraussetzung dafür, daß Den Haag, Brüssel, Paris, Rom und viele andere keine Hauptstädte autonomer Sowjetrepubliken im Verbund der großen Welt-Sowjetunion von Lissabon bis Wladiwostock, von Kapstadt bis Hammerfest wurden (und immer noch wären). Und das alles sogar nur, weil der eine Aggressor seinen Angriff etwas früher terminierte als der andere? Darf eine Weltgeschichte, die sich solche Treppenwitze erlaubt, noch fortschrittlich geheißen werden? Ist "Glück gehabt" die eigentliche historische Basis des freien Europas? Und was soll man aus einer solchen Geschichte überhaupt noch lernen können?

Was nicht sein darf, kann auch nicht (gewesen) sein. Die Gegner Suworows in der historischen Zunft hatten schnell die zu erwartenden Defensivpositionen bezogen. Zwar wurden notgedrungen "Frontverkürzungen" vorgenommen. Insbesondere das so liebgewordene Bild von der ahnungslos "friedliebenden Sowjetunion", die so ruchlos überfallen wurde, mußte teilweise revidiert werden, allerdings in einer Form, die am Modus "Aggressor hier, Defensor dort" prinzipiell nichts änderte. Die offensive Aufrüstung und Aufstellung der Roten Armee 1941 wurde, soweit nicht ignorierbar, in den Kontext einer prinzipiell auf (Gegen-)Offensive abgestellten Militär-
doktrin eingeordnet. Publizierte Materialfunde in sowjetischen Archiven, besonders der Aufmarsch- und Operationsentwurf vom 15. Mai 1941, bereiteten manches Kopfzerbrechen, doch konnten in den jüngsten einschlägigen Publikationen (Ueberschär, Gerd R. / Bezymenskij, Lev A. (Hg.): Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941. Die Kontroverse um die Präventivkriegsthese, Darmstadt 1998; Petrow-Ennkner, Bianka (Hg.): Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion Frankfurt a.M. 2000) auch dafür passende Interpretationen im Sinne eines zunächst defensiven Aufmarsches gefunden werden, der 1941 zu – dann nicht realisierten – Überlegungen zu einem sowjetischen Präventivschlag (eben jenen Plan vom 15. Mai) gegen den deutschen Angriff geführt haben soll.

Es ist hier nicht der Ort, diesen Komplex in allen Einzelheiten zu diskutieren. Den fachlich versierten Gegnern Suworows ist in vielen Fällen durchaus zu konzedieren, daß sie eine "Geschichte" erzählen, die insgesamt auf professionelle Weise rekonstruiert wurde. Nur ist es nur eine, und nicht, wie oft angemaßt, die "einzige" mögliche (tatsächlich gemeint: "erlaubte") Geschichte, die auf der Basis der publizierten Quellen und des zugänglichen Archivmaterials erzählt werden kann. Leider dominieren in der Debatte jene Forscher, die dazu neigen, den "seriösen" Stand der Forschung dadurch zu definieren, daß sie das, was einer seriösen Diskussion für würdig befunden wird, am Leisten des volkspädagogisch Erwünschten und politisch Korrektem bemessen.

Ein weniger rigider Gegner der Präventivkriegthese und ausgewiesener Kenner der sowjetischen Geschichte wie Bernd Bonwetsch schließt sich im Sammelband von Pietrow-Ennkner hingegen der oben skizzierten Interpretation der sowjetischen Politik im Sommer 1941 an, räumt jedoch ohne weiteres ein, daß über die wirklichen Ansichten und Absichten Stalins und der sowjetischen Führung zwar plausible Vermutungen möglich sind, eine "wirkliche Klärung" allerdings noch aussteht. (Er gesteht auch Suworow zu, daß "manche seiner Vermutungen durchaus originell, legitim und manchmal vielleicht sogar auch richtig" sind, wenn auch seine Schlußfolgerungen "unprofessionell und häufig sogar skandalös" seien).

Stalins Angriffsplan ist weder bewiesen noch widerlegt

Historiker müssen die Art und Qualität der Quellen, auf der sie ihre Thesen und Urteile stützen, einschätzen können. Tatsächlich handelt es bei den bislang zugänglich gemachten Materialien zu den sowjetischen Absichten und Plänen im Sommer 1941 nur um Formulierungen politischer und militärischer Optionen, nicht aber endgültiger Entscheidungen. Bonwetschs entsprechende Kritik an einer kurzschlüssigen Identifikation des Operationsplans vom 15. Mai mit dem großen sowjetischen Angriffsplan trifft durchaus den Punkt, allerdings muß diese Zurückhaltung umgekehrt auch gegenüber solchen Dokumenten angewandt werden, wie sie Bezymenskij und andere zum angeblich definitiven Beweis einer defensiven sowjetischen Grundhaltung publizieren.

Ob Stalin im Sommer 1941 einen Erstschlag vorbereitete, ist tatsächlich weder bewiesen noch widerlegt, und, so wie es derzeit aussieht, auch so schnell nicht zu beweisen oder zu widerlegen. Wer dennoch behauptet, es definitiv zu wissen, ob nun bejahend zur nachträglichen Rehabilitierung der Größe des russischen Militärs oder verneinend zur Rettung des fortschrittlichen Sinns der Weltgeschichte, beweist nur volkspädogogischen Eifer im nationalistischen oder antinationalistischen Sinne, aber keine wissenschaftliche Kompetenz. Dem Nicht-Wissenschaftler Vladimir B. Rezun alias Viktor Suworow kann man das vielleicht noch nachsehen, professionellen Historikern hingegen nicht.

Aus deutscher Perspektive zeigte Clio auf jeden Fall gnadenlos: Ob Hitler tatsächlich 1941 die Weltrevolution erstickte und das Rote Weltimperium verhinderte, wissen wir nicht, wir wissen nur, daß er mit "Barbarossa" sein eigenes Reich zerstörte – und das war dummerweise das Deutsche Reich. Ein Verlust, der sich jeder Wiedergutmachung entzieht. Wer weiß noch, wo Lydien lag?

 

Viktor Suworow: Stalins verhinderter Erstschlag. Hitler erstickt die Weltrevolution. Pour le Mérite, Selent 2000, 350 Seiten, geb., 49,80 Mark


 
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