© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/00 15. Dezember 2000

 
Ungeübtheit im Schmerz
Eine wesentliche Tatsache des Menschen droht verlorenzugehen
Tobias Wimbauer

Der zwölfte Aphorismus in Friedrich Nietzsches "Fröhlicher Wissenschaft", der die Überschrift "Vom Ziele der Wissenschaft" trägt, enthält die interessante Gleichsetzung von "Unlust" und "Schmerzlosigkeit". Was im Umkehrschluß bedeutete, daß "Lust" und "Schmerz" gleichzusetzen seien.

Nietzsche geht in diesem Aphorismus von dem stoischen Satz aus, daß möglichst wenig Lust zugleich möglichst wenig Unlust bedeute. "Möglichst viel Unlust" ist also der "Preis für gekostete Lüste und Freuden". So die "Schmerzhaftigkeit der Menschen" vermindert werden soll, muß gleichermaßen auch ihre "Fähigkeit zur Freude" vermindert werden. Der verdrängte Schmerz äußert sich, nach Schopenhauer, neben anderem, als "Geschlechtstrieb, leidenschaftliche Liebe, Eifersucht", kurz: Wollust. Auch sind Lust und Schmerz aufeinander angewiesen: "Unmäßige Freude und sehr heftiger Schmerz bedingen sich wechselseitig"; es verbindet das "ew’ge Band aus Lust und Schmerz gewoben" (Achim von Arnim). So strebt der Kluge, nach Aristoteles, nach Schmerzlosigkeit und nicht nach Lust.

Schiller formulierte, wie aus beidem der Trieb erwachse: "Um ein Objekt der Neigung werden zu können, muß der Gehorsam gegen die Vernunft einen Grund des Vergnügens abgeben, denn nur durch Lust und Schmerz wird der Trieb in Bewegung gesetzt."

Um die eigene Macht einem Anderen fühlbar machen zu können, so Nietzsche in der "Fröhlichen Wissenschaft", eignen sich sowohl der Schmerz als auch die Lust, wobei "der Schmerz ein viel empfindlicheres Mittel dazu ist als die Lust", denn "der Schmerz fragt immer nach der Ursache, während die Lust geneigt ist, bei sich selber stehen zu bleiben und nicht rückwärts zu schauen". Für Schopenhauer ist "der größte Schmerz der wahrgenommene Mangel an Kräften, wo man ihrer bedarf".

Der so erfahrene Schmerz erhebt den der Macht Unterworfenen über den Schmerzbringer, "am höchsten steht immer der leidende Mensch – weil er zugleich der freudenreichste ist", wie es in einer Vorstufe der "Fröhlichen Wissenschaft" heißt. Auch ist es für den "Menschen des Machtgefühles lustvoll, dem Widerstrebenden das Sigel der Macht aufzudrücken". Auf den Schmerzzufügenden jedoch kommt daraufhin doppeltes Leid zu: "einmal durch Mitleid an ihrem Leide und dann durch die Rache", die sie an ihm nehmen werden, so liegen die "größten Gefahren" im "Mitleiden".

In der "freiwilligen Uebung des Schmerzes" habe man dereinst ein "notwendiges Mittel" der eigenen Erhaltung gesehen, "damals erzog man seine Umgebung zum Ertragen des Schmerzes, damals fügte man gern Schmerz zu und sah das Furchtbarste dieser Art über Andere ergehen, ohne ein anderes Gefühl, als das der eigenen Sicherheit". Schmerz also als Bestätigung der eigenen Sicherheit. Nun aber, in einer "allgemeinen Ungeübtheit im Schmerz", kenne man Schmerz meist nicht aus eigener Erfahrung, so daß man allein den Gedanken an ihn unerträglich finde, ja ihn gar hasse in der "Armut an wirklichen Schmerz-Erfahrungen".

Die Tatsache des Schmerzes liegt in der Wesenheit des Menschen, "Schmerz ist als solcher dem Leben wesentlich und unausweichbar", es ist, nach Schopenhauer "in jedem Individuum das Maß des ihm wesentlichen Schmerzes durch seine Natur ein für alle Mal bestimmt". Auch das Wachstum des Schmerzes ist mit dem Anwachsen der Kultur eng verknüpft.

Nach Schopenhauer ist der Leib nichts anderes als der "sichtbar gewordene Wille", der Wille selbst. Bestätigung hierfür sieht er darin, daß jede körperliche Empfindung sich auf den Willen auswirke, "und in dieser Hinsicht Schmerz oder Wollust, also Affekt und Leidenschaft, den Leib erschüttert und den Lauf seiner Funktionen stört". Schopenhauer geht von der "Negativität aller Befriedigung, also alles Genusses und alles Glückes, im Gegensatz der Positivität des Schmerzes" aus, da die Abwesenheit von Glück oder Freude ein Gefühl des Vermissens auslöse, nicht aber die des Schmerzes, so sei das "Dasein dann am glücklichsten, wenn wir es am wenigsten spüren".

Die Koppelung "Unlust" und "Schmerz" spricht Nietzsche auch in der "Genealogie der Moral" an: "Ich lasse hier, wie billig, den eigentlichen Philosophen-Kampf gegen das Unlustgefühl, der immer gleichzeitig zu sein pflegt, ganz bei Seite – er ist interessant genug, aber zu absurd, zu praktisch-gleichgültig, zu spinnenweberisch und eckensteherhaft, etwa wenn der Schmerz als ein Irrtum bewiesen werden soll, unter der naiven Voraussetzung, daß der Schmerz schwinden müsse, wenn erst der Irrtum in ihm erkannt ist – aber siehe da! er hütete sich zu schwinden…"

Für den Schriftsteller Jünger gehört der Schmerz zu den "großen und unveränderlichen Maßen, an denen sich die Bedeutung des Menschen erweist", er ist zugleich die "stärkste Prüfung", die wesentlich zum Leben gehört, schreibt Jünger in seinem Essay "Über den Schmerz" (1934). Den Schmerz und den Zweifel müsse man passiert haben, um den Nihilismus überwinden zu können: Die Reifeprüfung des Passierens werde keinem erspart bleiben, wie es später im "Waldgang" heißt. Ähnlich auch in Jüngers Roman "Heliopolis": "Der nächste Schritt liegt darin, daß auch der Übermensch zu überwinden ist, indem er am Menschen scheitert, der in der Begegnung höhere Macht gewinnt. Das ist ein Zirkel, der unumgänglich ist. Der Schmerz kann nicht erspart werden."

Der Schmerz ist einer der "Schlüssel" zum Inneren des Menschen und der Welt und zur Selbsterkenntnis. So definiert sich der Mensch nicht zuletzt auch über die Art, in der er sich dem Schmerz gewachsen oder gar überlegen zeigt. "Nenne mir Dein Verhältnis zum Schmerz, und ich will Dir sagen, wer Du bist!"

Und schließlich der Schmerz als Mittel zur Zeitdiagnose: "Der Schmerz als Maßstab ist unveränderlich; sehr veränderlich dagegen ist die Art und Weise, in der sich der Mensch diesem Maßstab stellt". Der Fehler vieler beruhe darin, daß sie "den Schmerz in das Reich des Zufalls verweisen, in eine Zone, der man ausweichen und entrinnen kann". Ein Trugschluß, denn es gibt nichts, das "gewisser" als der Schmerz ist. Der Schmerz hat einen unausweichlichen Zugriff auf den Menschen.

Nach Augustinus gibt es keinen Schmerz des Leibes, sondern lediglich den der Seele: "Denn der Seele ist es eigentümlich, Schmerz zu empfinden, nicht dem Leib." So besteht Gefahr darin, daß man dem Schmerz auszuweichen versuche, nämlich, indem "die Summe des nicht in Anspruch genommenen Schmerzes sich zu einem unsichtbaren Kapital anhäuft, das sich um Zins und Zinseszins vermehret, … das Ausmaß der Bedrohung nimmt zu". Disziplin ist "die Form, durch die der Mensch die Berührung mit dem Schmerze aufrechterhält" und ihn gleichsam bändigt.

Eines Menschen hoher Rang zeichnet sich dadurch aus, daß der "Schmerz als unumstrittener Gebieter" überwunden wird, indem der Körper als "Gegenstand" betrachtet wird und der Mensch "sich selbst als Objekt" sieht. Im "Raum" dieses Zustandes "laufen alle Maßregeln nicht darauf hinaus, dem Schmerze zu entrinnen, sondern ihn zu bestehen". In diesem Raum gibt es Dinge, die wichtiger sind als der Schmerz. "Mit der fortschreitenden Vergegenständlichung wächst das Maß an Schmerz, das ertragen werden kann", das Bestreben mag darauf hinauslaufen, daß "Schmerz als Illusion betrachtet werden kann".

Nach der Überwindung ist der Schmerz für den Menschen "ein Rest von Schicksal, ein letztes Relikt von Unverfügbarkeit", wie Martin Meyer es in seiner Jünger-Werkmonographie (1988) ausdrückt. Der Schmerz "erhöht uns in anderen Regionen, im wahren Vaterland", schreibt Jünger in den "Strahlungen".

 

Tobias Wimbauer, 24, studiert Germanistik und Philosophie in Freiburg. Im vorigen Jahr veröffentlichte er das "Personenregister der Tagebücher Ernst Jüngers".


 
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