© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/00 15. Dezember 2000

 
Pankraz,
Newtons Tisch und die Schönheit der Ameisen

Mit dem "Tisch zum Buch" wirbt die "Edition Sumo" im Weihnachtsgeschäft. Das Buch ist ein Bildband des Fotografen Helmut Newton, nackte Frauen und Männer, es ist angeblich das schwerste Buch der Welt und so unhandlich, daß man dafür eigens einen Tisch braucht, um es dekorativ unterbringen und darin blättern zu können. "Edition Sumo" eben.

Aber ist der Newton wirklich das schwerste Buch? Vor Pankraz liegt "The Ants" von Hölldobler/Wilson, erschienen im wissenschaftlichen Verlag Springer (Berlin, Heidelberg, New York), ein viele Kilo schweres Riesenformat auf allerfeinstem Papier und in kostbarem Einband, das ebenfalls in kein Regal paßt, das sich sinnigerweise nur auf einem Spezialtischchen "auflegen" läßt, damit Besucher hin und wieder ehrfürchtig darin blättern können. "The Ants", ein Buch über Ameisen, nein, "das" Buch über Ameisen. Alles, was man bis jetzt über Ameisen weiß, ist darin auf über siebenhundert großflächigen Seiten verzeichnet.

"The Ants" ist gewissermaßen das Tadsch Mahal der Ameisenkunde. Zwei weltberühmte Forscher haben es geschrieben, aber was heißt geschrieben – errichtet haben sie dieses Buch, in blendendem Stil, mit äußerster Akribie in jahrzehntelanger Bauzeit und mit einer Hingabe an den Gegenstand, die man nur als Liebe bis in den Tod bezeichnen kann, als verzehrendes und lebenslanges Ausgeliefertsein. Was für Newton die gemeißelten Frauen- und Männerkörper, das sind für Hölldobler und Wilson die Ameisen.

Der Vergleich mit der Menschenwelt ist keineswegs abgeschmackt, denn was in "The Ants" aufleuchtet, sich strahlend entfaltet, ist eine kristalline Organisation von Zusammenleben, wie sie nur noch, weniger vollkommen, bei den Menschen vorkommt, nirgendwo sonst im Reich des Lebendigen. Ameisen sind "staatsbildend", lernt man in der Schule, aber was das wirklich bedeutet, erfährt man erst bei Hölldobler und Wilson.

Hermann Heller hat den Staat als "die höchstorganisierte Ordnungseinheit menschlichen Zusammenlebens" definiert, und Max Weber hat hinzugefügt: "Die Eigenart dieser Einheit besteht darin, daß sie das Monopol der legitimen physischen Gewaltanwendung besitzt." In der Menschenwelt haben solche Bestimmungen allenfalls einen heuristischen, einen Annäherungs-Wert; es gibt individuelle Durchstechereien, Korruption, konkurrierende Gruppeninteressen. Nicht so bei den Ameisen. Diese sind es, nicht die Menschen, die die höchstmögliche soziale Ordnungseinheit geschaffen haben, sie allein besitzen den vollkommenen Staat.

Und das nicht nur in dem Sinne, daß ihre Organisation perfekt und unzerstörbar funktioniert, sondern auch insofern, als der Ameisenstaat jedem Menschenstaat an Feinheit und Vielfalt der Differenzierungen, an Inforrmation und Kommunikation eindeutig überlegen ist. Die "Hardware" der Ameisen war von vornherein auf Nano-Größe angelegt, es sind "Pheromone", molekulare Duftstoffe, die über fast beliebig weite Strecken reichen und eine schier unendliche Skala von Botschaften transportieren.

Je nach Pheromonausstoß und -qualität wird beispielsweise das Sexualleben der einzelnen Staatsmitglieder an- oder abgestellt. Versklavte Kriegsgefangene werden durch Pheromone arbeitswillig und friedlich gestimmt, in überlegener Zahl angreifende Feinde entmutigt und strategisch in die Irre geführt. Pheromone dienen als Wegmarkierungen wie als Kennzeichen bestimmter Beamten- und Angestellten-Hierarchien. Mit ihrer Hilfe wird die zeitliche Entwicklung des Nachwuchses, der "Puppen", reguliert, so daß diese Puppen (bei den Weber-Ameisen) bei Bedarf auch als Weberschiffchen zum Zusammennähen von Blättern eingesetzt werden können.

Es ist nicht so, daß das Individuum, die einzelne Ameise, "nichts" sei, wie oft zu lesen steht. Jede lebt durchaus ihr eigenes Leben, freut sich offenbar ihres Daseins. Aber das eigene Dasein wird vollständig und widerstandslos dem Dasein des Staates untergeordnet. Im Hinblick auf den Staat ist die einzelne Ameise lediglich Funktion, hat nicht den geringsten Eigenwert.

Wenn etwa Honigtöpfe gebraucht werden, in denen man einen Vorrat an Blattlausmilch oder anderen Süßstoffen anlegen will, stellen sich sofort – Pheromone regeln das – genügend Ameisen zur Verfügung, lassen sich von ihren Mitameisen widerstandslos an der Decke der Höhle aufhängen und mit "Honig" vollpumpen, was sie natürlich für andere Staatsfunktionen und fürs eigene Leben auf immer untauglich macht. Sie sind nun nichts weiter mehr als Honigtöpfe.

Die vollkommene Identität von Individium und Staatsfunktion ist das Erfolgsgeheimnis des Ameisenstaates. Ein solcher Staat kann zwar als Ganzes absterben oder durch äußere Einflüsse vernichtet werden; von innen heraus zerstört werden kann er nicht. Solange er von Individuen bevölkert wird, existiert er auch.

Ernst Jünger, der Schriftsteller und Entomologe, hat viel über Vorzug und Nachteil des Ameisenstaates im Vergleich zur Menschenwelt nachgedacht. Sein Fazit (wenn Pankraz richtig gelesen hat): Wer einen Sinn für Organisation und Ganzheit hat, für die Schönheit der Gesetze und Kristalle, für reibungsloses, elegantes Zusammenspiel verbündeter Kräfte, der wird dem Ameisenstaat die Krone der Schöpfung zusprechen und mit Bewunderung nicht sparen. Das ist selbstverständlich auch die Meinung von Hölldobler und Wilson. Deshalb haben sie ihr Buch geschrieben.

Pankraz für sein Teil fügt hinzu: Nur wer auf Distanz zum Ganzen gehen kann, ist in der Lage, dieses Ganze überhaupt irgendwie zu genießen. Nur der prinzipiell Dysfunktionelle vermag Funktion zu erkennen und zu würdigen.

Wer ein adäquates Weihnachtsgeschenk für wirkliche Genießer sucht, sollte also doch lieber den Newton und nicht den Hölldobler/Wilson nehmen. Ein Spezialtisch ist für beide Bücher fällig, auch wenn die Liebesobjekte von Hölldobler/Wilson lange nicht an Sumoformat heranreichen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen