© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/00 15. Dezember 2000

 
Gipfel der Schande
Die Ergebnisse beim Treffen der Staats- und Regierungschefs in Nizza blieben Stückwerk
Sebastian Neumann

Das Stimmengewicht Deutschlands so zu belassen wie vor der Wiedervereinigung bedeutet, das ehemalige Ostberlin und die fünf östlichen Bundesländer ihrer Rechte zu berauben. [...] Deutschland ist der ewige Zahlmeister der Union. [...] Berlin schuldet Paris keinen Gefallen – und verdient die britische Unterstützung bei der Neugewichtung der Stimmen im Ministerrat", forderte die regierungskritische Londoner Zeitung The Daily Telegraph vor Beginn des EU-Gipfels in Nizza überraschend deutschlandfreundlich.

Daß die Europäische Union nichts anderes als die Illusion von einem zusammenwachsenden Europa auf der Basis demokratischer Prinzipien darstellt, unterstrich der britische Premierminister Tony Blair in seinem Resümee zum abgelaufenen EU-Gipfel in Nizza. "Wir haben unser Veto-Recht bei den Steuern und der sozialen Sicherheit erhalten", erklärte der Labour-Politiker trocken und fügte hinzu: "Wir hätten dies auch nicht aufgegeben." Gleichzeitig verteidigte Blair den erhöhten Einfluß der großen Länder im EU-Ministerrat mit den Worten: "Darum ging es schon immer."

Unmißverständlicher, als Blair es getan hat, kann nicht mehr deutlich gemacht werden, daß die EU aller anders- lautenden Propaganda zum Trotz zunächst einmal eine Arena der nationalen Egoismen ist, die mit dem Lockmittel deutschen Geldes auf einen Minimalkonsens verpflichtet werden. So paradox es an dieser Stelle auch klingen mag: Nach Lage der Dinge muß es sogar positiv bewertet werden, daß niemals mehr als ein Minimalkonsens in dieser Union erzielt werden kann.

Was wäre zum Beispiel passiert, wenn es in Nizza wirklich zu einer rigorosen Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen im EU-Rat gekommen wäre? Dem zentralen Gesetzgebungsorgan der Union, dem Ministerrat, zusammengesetzt aus den Ministerialbürokratien der Mitgliedsstaaten und deren – in EU-Fragen oft unterbelichteten – Ministern, wäre eine weitere ungeheure Machtausweitung zugewachsen, deren Legitimation mehr als zweifelhaft ist.

Bereits jetzt ist jede "Richtlinie" oder "Verordnung", die den Rat passiert hat, bindendes europäisches Recht – und zwar unabhängig vom Willen der nationalen Parlamente, denen nur die Umsetzung der Richtlinien in nationale Gesetze vorbehalten bleibt. Der Spiegel brachte diese Konstruktion treffend auf den Punkt: "De facto schreibt sich die Exekutive der Mitgliedsländer ihre Gesetze selbst, unter Ausschluß der Öffentlichkeit und mit stetig wachsender Tendenz." (Spiegel-Online 49/00). Das Hamburger Nachrichtenmagazin folgert: "Jeder Staat, der so verfaßt wäre wie die Europäische Union, könnte niemals Mitglied der Union werden."

So kommt es, daß seit Jahren weitreichende Entscheidungen des Rates immer erst dann öffentlich debattiert werden, wenn sie die nationalen Parlamente erreicht haben. Diesen bleibt in der Regel nur eines: die Brüsseler Entscheidungen durchzuwinken. Daß die Brüsseler Räte bisher nicht noch viel gravierender in den Lebensalltag der EU-Bürger eingegriffen haben, lag an dem Prinzip der Einstimmigkeit. Genau hier sollte der Nizzaer Gipfel eigentlich Abhilfe schaffen, was dank der verschiedenen nationalen Vorbehalte nur teilweise gelungen ist. Für rund 35 von 73 Artikeln der EU-Politik gilt künftig, daß per Mehrheitsbeschluß und nicht wie bislang einstimmig entschieden wird. In Zukunft soll zum Beispiel der Kommissionspräsident per Mehrheitsentscheidung bestimmt werden.

In zentralen Bereichen wird aber die Veto-Möglichkeit fortgeschrieben. Beim Asylrecht wurde der deutschen Forderung entsprochen, wonach das Vetorecht erst dann entfällt, wenn die EU-Mitglieder eine gemeinsame Asyl- und Einwanderungspolitik festgelegt haben. Bei der Steuerpolitik bleibt das Vetorecht auf britischen Wunsch unangetastet. Großbritannien wird also auch in Zukunft eine europäische Steuerpolitik blockieren, mit der die Abgabenlast ausgewogen auf die verschiedenen Einkommensteuerarten verteilt wird. So dürfte sich der Trend fortsetzen, daß die Steuern auf Kapitaleinkommen im europäischen Standortwettbewerb immer weiter sinken, während die Abgaben auf die Einkommen der weniger mobilen Arbeitnehmer steigen. In der milliardenschweren Strukturpolitik bleibt es auf Drängen Spaniens bis 2007 beim Zwang zur Einstimmigkeit. Und bei der gemeinsamen Handelspolitik bleibt das von Frankreich gewünschte Vetorrecht bei kulturellen Fragen weitgehend bestehen.

Mit anderen Worten: die Entscheidungsprozesse im EU-Rat sind in keiner Weise effizienter geworden. Selbst in den Bereichen, in denen Abstimmungen erlaubt sind, kann unter Umständen gleich dreimal votiert werden. Zuerst müssen 71 Prozent der Ratsstimmen zusammenkommen. Daß diese insbesondere zu Lasten Deutschlands völlig unlogisch verteilt, weil nicht an der Bevölkerungsgröße orientiert sind, sei nur am Rande erwähnt. Dann muß diese Mehrheit von zwei Dritteln der Mitgliedsstaaten getragen werden. Und schließlich kann auch noch gefordert werden, daß mindestens 62 Prozent der Bevölkerungszahl durch das Votum repräsentiert werden müssen. Im Grunde genommen kann auf diese Weise jede weitergehende Entscheidung konterkariert werden.

Mit guten Grund hält daher der deutsche Europaparlamentarier Elmar Brok (CDU) die Zustimmung des EU-Parlamentes keineswegs für gesichert. Wörtlich sagte Brok: "Weil die Ziele nicht erreicht worden sind und gleichzeitig der Abbau des demokratischen Defizits nicht wirklich gelungen ist, ist aus diesem Grund zu befürchten, daß das Europäische Parlament zu diesem Ergebnis Nein sagen wird." Broks kritische Äußerung hat inzwischen Widerhall gefunden. Die Berichterstatter beider großer Fraktionen im EU-Parlament haben bereits angekündigt, für eine Ablehnung der Ergebnisse von Nizza zu werben.

Die EU-Parlamentarier bedürfen aber der Unterstützung durch die nationalen Parlamente, sollen diese nicht zu bloßen Akklamationsorganen verkommen. Es bedarf, um es mit dem Spiegel-Redakteur Harald Schumann zu sagen, eines "demokratischen Aufstandes", mittels dessen die "Fehlkonstruktion von Nizza" dorthin befördert wird, wo sie hingehört: auf den "Müllhaufen der Geschichte".

Der Widerstand, der sich hier – wenn auch noch in Ansätzen – gegen die Brüsseler Räteherrschaft formiert, ist zwingend und notwendig. Die Formulierung einer EU-Verfassung gehört in das Europäische Parlament. Dieses hat die EU-Verfassung am Ende dem eigentlichen Souverän, dem EU-Bürger, zur Volksabstimmung zuzuleiten. Nur auf diese Weise kann das gravierende Demokratiedefizit der EU beseitigt werden, soll die EU nicht in Zukunft das bleiben, was sie bisher war: eine Umverteilungsveranstaltung zu deutschen Lasten.


 
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