© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/00 08. Dezember 2000

 
Auf der Anklagebank
von Peter Sichrovsky

Lassen Sie mich eine Episode aus der neueren europäischen Geschichte erzählen – und, wenn es mir gelingt, auch erklären. In dieser Episode geht es um Recht und Unrecht, um Gut und Böse und um viele weitere Gegensätze, mit deren Hilfe politische Unterschiede zu definieren versucht werden. Ich möchte mir erlauben, die Phasen dieses Kampfes – und es ist schon lange keine bloße Auseinandersetzung zwischen politischen Unterschieden mehr – symbolhaft mit Auszügen aus dem Schaffen des wohl wichtigsten deutschsprachigen Schriftstellers dieses Jahrhunderts – und auch meines liebsten Dichters –, Franz Kafka, zu verbinden.

Etwa mit Kafkas "Die Verwandlung": "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt ..." Als die FPÖ nach den letzten Wahlen im Oktober 1999 eine Koalitionsregierung mit der ÖVP bildete und zaghaft versuchte, ihren sensationellen Erfolg auch selbst zu verstehen, wurde sie in den Tagen und Wochen danach zum "Ungeziefer" Europas erklärt und mit ihr auch gleich die ganze Bevölkerung Österreichs.

"Was ist mit mir geschehen", dachte Gregor Samsa in Kafkas Erzählung, nachdem er so verwandelt aufwachte. Er kam sehr schnell zu der Erkenntnis, daß alles leider kein Traum sei. Ähnliches ging vielleicht auch Funktionären, Politikern, Wählern und Nicht-Wählern einer Partei durch den Kopf, die seit mehr als drei Jahrzehnten in das politische Leben Österreichs integriert ist und plötzlich eine derart haß-
erfüllte Reaktion auslöste.

Die FPÖ war bereits in den achtziger Jahren in einer Koalitionsregierung mit den Sozialisten unter dem damaligen Kanzler Bruno Kreisky. Sie stellt heute einen von neun Landeshauptleuten, ist in den Landesregierungen vertreten und hält in Dutzenden Städten Österreichs die Position des Bürgermeisters. Doch eigenartigerweise vollzog sich die Kafkaeske Verwandlung der FPÖ genau an dem Tag, an dem sie eine Koalition mit der ÖVP beschloß.

Wie schon bei Gregor Samsa in Kafkas "Verwandlung" seine Familie davon träumte, ein normales Leben erst führen zu können, wenn sie das Ungeziefer loswäre, so reagierte auch das europäische politische Establishment mit dem Versuch, durch Verdammung und Ausgrenzung die gewohnte Gemeinsamkeit wiederzufinden. Doch es sollte anders kommen: Das in ein störendes "Ungeziefer" verwandelte Österreich gab die Hoffnung nie auf, diese unerwartete Metamorphose wieder umzukehren.

Ein anderes Werk Kafkas ist "Der Prozeß": "Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet ..." Die beiden Parteien ÖVP und FPÖ einigten sich im Februar 2000 nach dem Scheitern der Verhandlungen zwischen SPÖ und ÖVP, und SPÖ und FPÖ auf eine neue Koalitionsregierung. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten regierte in Österreich nicht mehr ein sozialistischer Kanzler. Die Österreicher hatten in einer demokratischen Wahl als demokratisch organisierte Gesellschaft eine demokratische Entscheidung gefällt. Als Österreich kurz nach Bildung der neuen Koalition mit der Verurteilung der Regierungen von 14 Staaten der EU konfrontiert wurde, muß es sich wohl ähnlich wie Josef K. gefühlt haben.

Doch was hatte Österreich getan, daß es nun an den Pranger der Weltöffentlichkeit gestellt wurde?

Mit Klischees und Vorurteilen wurde Österreich konfrontiert. Nichtssagende Schlagwörter wie Rassismus, Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Neo-Faschismus, Xenophobie, Neo-Nazitum erlebten eine Inflation und wurden zu neuentdeckten Definitionshilfen gegenüber Österreich. Kritik verwandelte sich in Kriminalisierung, und gewählten österreichischen Demokraten wurde bedenkenlos die Mentalität und Geisteshaltung von nationalsozialistischen Massenmördern unterstellt – und mit ihnen gleich der ganzen Bevölkerung.

Der Nationalsozialismus in Deutschland und der Faschismus in Italien wurden oft mit dem Begriff der kollektiven Barbarei beschrieben. Mehr als 50 Jahre später ließ sich eine moderne Zivilisation von einer politischen Elite willkürlich als nichtdifferenzierte Masse gegen Minderheiten und Andersdenkende aufhetzen und mobilisieren. Ohne den Vergleich hier zu wagen, da vor allem die Opferrolle Österreichs in keinster Weise mit jenen Verfolgten und Ermordeten des Faschismus und des Nationalsozialismus gleichzusetzen ist, stimmt es bedenklich, daß mehr als 50 Jahre nach dem Holocaust Menschen in Europa sich so einfach aufhetzen lassen und sich dabei auch noch als antifaschistische Helden feiern lassen.

Niemand wird zum Antifaschisten, wenn er einen demokratisch gewählten Demokraten als Nazi denunziert. Daß sich die Kritiker der FPÖ auch als Widerstandskämpfer bezeichnen, verhöhnt nicht nur die Menschen, die ihren Widerstand gegen die Nationalsozialisten mit dem Leben bezahlten, sondern zeigt auch, wie wenig jene von einer historischen Epoche wissen, deren Wiederholung sie nicht zuzulassen vorgeben.

Wenn heute unter dem Schutzmantel der Demokratie der Protest gegen die neue Regierung in Österreich mit dem verzweifelten, heroischen Einsatz gegen eine Diktatur verglichen wird, zeigt es uns, wie schnell das Grauen von Herrschaft und Terror vergessen wird und wie leichtfertig sich so manche auf eine Ebene mit jenen Verfolgten stellen, die damals todesmutig den Mördern ihre Stirn zeigten. Die FPÖ ist sowenig eine faschistoide Partei, wie ihre Gegner Antifaschisten sind. Noch einmal Franz Kafka: "Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. ’Es ist möglich‘, sagte der Türhüter, ’jetzt aber nicht‘..." In den Monaten nach dem Beginn der Sanktionen gegen Osterreich erlebte Europa eine neue Dimension der politischen Auseinandersetzung.

Geduldig wurde hingegen jeder noch so unsoziale, minderheitenfeindliche und ungerechte Beschluß der alten Regierungen hingenommen, und man muß heute den Sozialisten auch eine gewisse Bewunderung gewähren, wie sie jede Kritik gegen ihre Maßnahmen als "rechtsgerichtete, undemokratische und reaktionäre" Aktion verdammten und ihr damit jede moralische Berechtigung nahmen. Die Schweigepflicht der angeblich kritischen Intellektuellen und Künstler gegenüber den sozialdemokratischen Regierungschefs ging so weit in Österreich, daß selbst extremste Formen der Selbstlüge wie die Verleugnung der Mitverantwortung an den Verbrechen der Nationalsozialisten wortlos hingenommen wurden.

So mache Künstler und angebliche Intellektuelle lassen sich heute als Verfolgte der neuen Regierung feiern. Sie vergleichen sich mit den Opfern der Nationalsozialisten und sprechen von "Gestapo-Methoden", mit denen sie angeblich verfolgt werden. Die Peinlichkeit dieses lächerlichen Opfergehabes hinterläßt nicht einmal Spuren in ihren Gesichtern. Mit einer neuentdeckten Selbstzufriedenheit flüchten sich hier Vertreter der Nachkriegsgenerationen in Distanzierungsversuche gegenüber den Verbrechen der Nazis und damit ihrer eigenen Familiengeschichte – und es ist deshalb auch kein Zufall, daß vor allem die Deutschen eine führende Rolle in dieser antifaschistischen Hysterie spielen.

Wie beschrieb einst ein deutscher Philosoph dieses Verhalten: "Zuerst waren die Deutschen die besten Faschisten, dann die besten Kommunisten und jetzt sind sie halt die besten Demokraten." Der deutsche Außenminister Fischer nannte als Grund für sein besonders aggressives Verhalten gegenüber der österreichischen Regierung seine Verpflichtungen aus der deutschen Geschichte. Er sprach von der Belastung der "gemeinsamen Vergangenheit Österreichs und Deutschlands" – und wollte damit sich und seine Landsleute in eine neue Form der Geschichtslüge drängen, da nämlich Österreich und Deutschland gleich verantwortlich für Nationalsozialismus und Holocaust seien ...

Sicherlich gab es in Österreich auch vor dem Einmarsch der Deutschen einen aggressiven Antisemitismus. Doch der Unterschied zwischen Österreich und Deutschland ist der zwischen Antisemitismus und Holocaust. Und keine noch so perfide Diffamierurng Österreichs und Fälschung der eigenen Geschichte wird Deutschland jemals aus dieser Verantwortung entlassen.

"Das Schloß": "Das Schloß hatte ihn also zum Landvermesser ernannt. Das war einerseits ungünstig für ihn, denn es zeigte sich, daß man im Schloß alles Nötige über ihn wußte, die Kräfteverhältnisse abgewogen hatte und den Kampf lächelnd aufnahm. Es war aber andererseits auch günstig, denn es bewies, seiner Meinung nach, daß man ihn unterschätzte und daß er mehr Freiheit haben würde, als er hätte von vornherein hoffen dürfen ..." Von Beginn an war es der Wunsch der neuen österreichischen Regierung, das Verhältnis zu den Partnern in der EU so schnell wie möglich wieder zu normalisieren.

Doch wie K. in Kafkas Roman "Das Schloß" bei dem Versuch verzweifelt, beim Grafen vorgelassen zu werden, scheiterten auch die Vertreter der österreichischen Regierung daran, in den majestätischen Kreis der EU wieder aufgenommen zu werden. Österreich war kein Unbekannter in dieser EU, wie auch K., der zum Landvermesser vom Schloß ernannt worden war. Es war den EU-Mitgliedern auch nicht unbekannt, daß Österreich sich nie einer Verletzung der Prinzipien der Demokratie schuldig machte, nie die Menschenrechte seiner Bevölkerung mißachtete, jederzeit seine Grenzen für Flüchtlinge öffnete.

Doch was soll’s. Die Herren im EU-Schloß erprobten das patriarchalische Prinzip der Herrschaft gegen das Matriarchat im österreichischen Dorf, wo angeblich die minderen Gefühle der einfachen Bevölkerung zur Staatspolitik erhoben wurden. Die österreichische Regierung blieb im Dorf und sah sehnsuchtsvoll hinauf zum Schloß, das fern und unerreichbar blieb – bis, und hier erwachte das Selbstbewußtsein der Dorfbewohner, die Österreicher auf die Idee kamen, selbst zu entscheiden, ob sie das Schloß noch benötigten.

Diese neuentdeckte Form der Frechheit sprach sich in den umliegenden Dörfern herum, und bald diskutierten die "einfachen" Menschen die Notwendigkeit der Abhängigkeit von den Schloßherrn. Das Schloß reagierte mit Panik. Der Gedanke, daß die Dorfbewohner mehrerer Ortschaften darauf verzichten könnten, ihr Leben lang für die Schloßherren zu arbeiten, hinterließ schreckliche Vorstellungen von Sinn- und Wirkungslosigkeit. Um sich selbst wieder einen Sinn zu geben und einen Ausweg aus der Selbständigkeit der Dorfbewohner zu finden, wurde mit kaum zu überbietender Eile eine Gruppe von drei Weisen zusammengestellt.

Zurückkehrend zur europäischen Realität – der Weisenbericht kam leider zu spät. Die europäische Gemeinschaft hatte sich selbst unter dem Vorwand, angeblich eine Gemeinschaft der "Werte" zu verteidigen, in eine ihrer schlimmsten Krisen manövriert. Die Mißachtung der demokratischen Entscheidung in einem Mitgliedsland, der ignorante Versuch, die Bildung einer Regierung zu verhindern und den Willen des Wählers als Irrtum zu erklären, alarmierte vor allem die Völker der kleinen Mitgliedsländer in Europa. Die historisch einmalige Chance, ein über Jahrhunderte zerstrittenes Europa zu einer friedlichen Gemeinschaft zusammenzuführen, wird durch die Großmannssucht einzelner Politiker gefährdet.

Noch einmal Kafka: "Sie erweisen mir die Ehre, mich aufzufordern, der Akademie einen Bericht über mein äffisches Vorleben einzureichen ..." Der Bericht der Weisen lobt das Verhalten der neuen österreichischen Koalition. Österreich hat seine Prüfung überstanden und wurde in den Kreis der Zivilisation wieder aufgenommen.

Wie der Affe in Kafkas Erzählung seine eigene Annäherung an das Menschengeschlecht beschreibt und den Anspruch betont, von den Menschen jetzt auch als gleichberechtigt aufgenommen zu werden, entdeckten die drei Weisen ein Österreich, das all die anderen angeblich nicht sehen konnten. Monate!ang übte der Affe bei Kafka das Verhalten der Menschen, bis es zu seinem eigenem wurde. Unbedacht kopierte er seine Vorbilder und glaubte sich am Ende dort, wo alle Affen hinwollen, und sagt zuletzt: "lm übrigen will ich keines Menschen Urteil, ich will nur Kenntnisse verbreiten, ich berichte nur ..."

Der Bericht der drei Weisen hat die europäischen Regierungsvertreter von ihrer eigenen Schande befreit. Wie drei Wühlmäuse gruben sie den Sanktionsvertretern einen Ausweg aus ihrer Sackgasse. Selbstkritisch muß ich allerdings am Ende meines Berichts auch mich hier zuordnen. Was unterscheidet mich von "Kafkas Helden", wenn ich Sie hier zu überzeugen versuche, daß Österreich und vor allem die FPÖ sich nicht von all den anderen demokratischen Parteien und Völkern in Europa unterscheiden?

"Es verlockte mich nicht, die Menschen nachzuahmen; ich ahmte nach, weil ich einen Ausweg suchte", sagt der Affe in Kafkas Erzählung. Jene, die sich in ihren Verurteilungen verirrten, ohne einen Ausweg zu suchen, behaupten immer noch, daß der neuen Regierung nicht zu trauen sei. Französische Minister, die mit ehemaligen Kommunisten zusammenarbeiten und die in Europa sicherlich minderheitenfeindlichste Gesetzgebung verteidigen, weigern sich, Österreich zu besuchen. Israelische Politiker, die mit fanatischen Religionsparteien Koalitionen bilden, ziehen ihre Botschafter aus Österreich zurück. Dänische Sozialisten hetzen gegen Ausländer, und in Großbritannien wird offen über den Mißbrauch des Rechts auf Asyl diskutiert ...

Wer kann mir endlich erklären, was Österreich und insbesonders die FPÖ von all den Anständigen in dieser Welt unterscheidet? Kafkas Roman "Der Prozeß" endet mit der Hinrichtung des Josef K., der nie den Grund für seinen gewaltsamen Tod erfährt: "Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachten. ’Wie ein Hund‘, sagte er. Es war, als sollte die Scham ihn überleben ..." Ein Wunschtraum unserer Gegner. Wenigstens die Scham soll überleben!

 

Peter Sichrovsky ist Europaabgeordneter und für Außenpolitik zuständiger Generalsekretär der Freiheitlichen Partei Österreichs. Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung einer Rede zum Thema "Hysterie in Österreich und um Österreich", die Sichrovsky auf Einladung der "European Affairs Society" an der Universität von Oxford gehalten hat.


 
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