© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/00 08. Dezember 2000

 
Das okkulte Sprechen der Ingeborg B.
Die Nachlaß-Edition der Bachmann-Geschwister wirft Fragen auf
Jutta Winckler

Diese junge Frau hat die fleißigen Epigonen, die emsigen Interessengemeinschaften und die unermüdlichen Selbstinterpretatoren mit einer lässigen Selbstverständlichkeit überrundet, die entzückt. Das Außergewöhnliche dieser Dichterin läßt sich am besten ausdrücken, wenn man zunächst einmal feststellt, was sie nicht ist: Man findet bei ihr weder die kleidsamen Töne der Resignation noch die modischen Nuancen der Melancholie und der Koketterie mit der Verzweiflung. Ihre Verse sind hart im Klang, kühn und bizarr, doch niemals unorganisch in den Bildern; sie sind getragen von einer radikalen Illusionslosigkeit, aber auch von einer noblen, kraftvollen Schicksalsbereitschaft."

So las sich das, in den Fünfzigern des vorigen Jahrhunderts, wenn ein Günter Blöcker im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung "die Bachmann" pries. Wieso? Mit einem Schlag – ihrem Lyrikbändchen "Die gestundete Zeit" – war es der Endzwanzigerin aus Klagenfurter gelungen, in die erste Reihe deutschsprachiger Dichtkunst vorzustoßen. Ein literaturpolitisch tonangebender Männerbund namens Gruppe 47 nahm sich der Wortgewaltigen mit dem Pagenkopf an und beglückte sie mit seinem Literaturpreis. Zumal sie, darin gleichsam imaginäre Mutter des mittleren bzw. späten Handke, im Unterschied zu vielen lyrischen Zeitgenossen kaum je sich des Jargons oder der Vulgärsprache bedient.

Der hohe Ton ist ihr nicht fremd gewesen, so wenig wie er, wenngleich anders schattiert, einem Brecht fremd war: "Besser ist’s, im Auftrag der Ufer/zu leben, von einem zum andern,/und tagsüber zu wachen,/daß das Band der Berufene trennt." Da hölderlint’s, und der Völkermord an den Dresdnern liegt kein Jahrzehnt zurück. "Wie eitel alles ist./Wälze eine Stadt heran,/erhebe dich aus dem Staub dieser Stadt,/übernimm ein Amt/und verstelle dich,/um der Bloßstellung zu entgehen" – solche Bilderapokalyptik schrieb damals die Bachmann und nicht der Brecht. Deutschland/West erlebt simultan sein Fußballwunder von Bern/Wankdorf, und Deutschland/Ost liest Strittmatter.

Diese Frau verfügt über etwas höchst Seltenes – einen lyrischen Intellekt, der am wenigsten möchte, daß man Nächstenliebe an ihm übt: "Sei wahr und gib dem Schnee die Jahre zurück,/nimm Maß an dir selbst und laß die Flocken/dich nur von ungefähr streifen." Das teilt die allseits Bewanderte mit den tapferen Verlierern von ’45: "In der Nachgeburt der Schrecken/sucht das Geschmeiß nach neuer Nahrung. Zur Ansicht hängt karfreitags eine Hand/am Firmament, zwei Finger fehlen ihr,/sie kann nicht schwören, daß alles,/alles nicht gewesen sei und nichts/sein wird. Sie taucht ins Wolkenrot,/entrückt die neuen Mörder/und geht frei." Kein Bedarf am Weltbürgerkrieg der Jakobiner, ebensowenig an flauer Abendländlerei, kein Fraternisieren, besser: kein Sororisieren mit raumfremden Eroberern, die Europa "für die letzte Ölung richten": "Der Krieg wird nicht mehr erklärt,/sondern fortgesetzt. Das Unerhörte/ist alltäglich geworden. Der Held/bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache/ist in die Feuerzonen gerückt./Die Uniform des Tages ist die Geduld,/die Auszeichnung der armselige Stern/der Hoffnung über dem Herzen."

Bis heute fehlt den Besiegten von 1945 jene "Tapferkeit vor dem Freund": "Wo Deutschlands Erde den Himmel schwärzt,/sucht die Wolke nach Worten und füllt den Krater mit Schweigen,/eh sie der Sommer im schütteren Regen vernimmt./Das Unsägliche geht, leise gesagt, übers Land:/schon ist Mittag." Dem unbefangenen Sinn einer derlei um 2000 Lesenden enthüllt sich eine Bachmann, wie sie einer blinden, weil ressentimentgeladenden Literaturkritik bislang wahrzunehmen unmöglich gewesen ist. Die Bachmann hat man eben "anders" aufzufassen. Wie zum Beispiel einen Kleist, einen Hebbel, einen Raabe, einen Gerhart Hauptmann, deren text- und faktengerechte Darstellung einen "Germanisten" unserer Tage vor den Kadi der hiesigen politischen Gesinnungsgerichtsbarkeit bringen könnte. "Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt,/sucht sein enthaupteter Engel ein Grab für den Haß/und reicht dir die Schüssel des Herzens."

Deutschlands Engel hat mehr Veranlassung denn je, ein Grab zur Beerdigung/Beendigung jenes aberwitzigen Hasses zu suchen, aus dem einschlägige Interessentenhaufen ihre unheilvollen Einbindungs-, Zähmungs- und Vermischungs-Obsessionen speisen. Der in fünfzig Besatzungsjahren herausgemendelte deutsche Selbsthaß wäre einer Bachmann so manche literarische Wahrheit wert gewesen. Die heutigen PC-Literaten spüren noch nicht einmal Phantomschmerzen, sie haben Spaß, sind chronisch gut drauf, und ihr Zeug ist überflüssig. "In diesem Sommer blieb der Honig aus", klagte die Bachmann, kaum waren die alliierten Geschöpfe BRD und DDR zur Welt gekommen. Und müßte, lebte sie noch, als fünfundsiebzigjährige poetische Doyenne, heute hinzufügen: Und auch den vielen, die ihm folgen sollten.

Durs Grünbein, Botho Strauß, Gregor Brand, Martin Mosebach sind eher Feigenblätter, fast schon verfemt erscheinende Federn, geeignet, die entsetzliche Blöße, die inhaltliche wie formale Auszehrung derzeitiger deutscher Dichtung um so greller darzutun: "Seht zu, daß ihr wachbleibt!" ruft uns jene "andere Bachmann", gleichsam aus dem transzendenten Off, herüber, uns, den "freien Geistern" (Friedrich Nietzsche), die wir wissen, daß ein "Aufstand der Anständigen" (Gerhard Schröder) in Deutschland die restlose "Vaporisierung der geistigen Freiheit" (Hansdietrich Sander) heraufführen dürfte. Ernstfall, in der 1990er Mega-BRD, "gegen Rechts", und Bachmannsche Imagination bringt das deutsche Interregnum, damals wie heute unsäglich, ins poetische Bild: "Es kommen härtere Tage./Die auf Widerruf gestundete Zeit/wird sichtbar am Horizont ... Die Zeit tut Wunder. Kommt sie uns aber unrecht,/mit dem Pochen der Schuld: wir sind nicht zu Hause./Im Keller des Herzens, schlaflos, find ich mich wieder/auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit." Die politischen Lemuren unserer Tage suchen hektisch die "Fracht ihres Sommers zu verladen" und machen gleichwohl die Rechnung ohne den Wirt: "Wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit,/kommt aus dem Westen der Befehl zu sinken;/doch offnen Augs wirst du im Licht ertrinken,/wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit."

Diese bislang im Schatten gehaltene Bachmann tritt in ihrem zu Lebzeiten unveröffentlichten Werkteil noch plastischer in Erscheinung, und obschon man den Nachlaß bis 2025 sperrte, ist mit Hilfe der beiden Geschwister der Dichterin (Isolde Moser und Heinz Bachmann) so manches schon heuer zur Veröffentlichung gelangt. Freilich erschienen bereits 1998 "letzte unveröffentlichte Gedichte" der Dichterin, ediert von Hans Höller, und es war damals anzunehmen, daß dies im Wortsinn der Fall war. "Nichts mehr wird kommen", ließ die Bachmann in einem ihrer reizvollsten Gedichte ("Enigma" – für ihren Liebhaber Hans Werner Henze) verlauten und schwor 1968 tatsächlich der Lyrik ab. Nun aber kam doch noch "etwas" – ungeachtet der Nachlaßsperre. Den Band "Ich weiß keine bessere Welt" eröffnet eine Erklärung der Geschwister, daß "das Wiederlesen nach fast drei Jahrzehnten faszinierend, berührend und so beeindruckend" gewesen sei, "daß der Gedanke aufkam, diese Texte nicht länger unter Verschluß zu halten".

"Aufhören ist eine Stärke, nicht eine Schwäche", postulierte die Klagenfurterin damals, in jenen wilden Zeiten, doch scheint sie dem Vorsatz, lyrisch abstinent zu leben, untreu geworden zu sein. Zu stark drängten die inneren Bilder heran, zu überschäumend ihre poetische Lust an Weltverdichtung. Die ambitionierten Geschwister gestatten dem interessierten Publikum gleichsam einen indiskreten Blick in die Werkstatt, wenn sie unter anderem einen kleinen Prag-Zyklus bieten ("Jüdischer Friedhof", "Wenzelsplatz und Poliklinik Prag"), Früchte zweier Prag-Reisen im Jahre 1964. Der Band macht vornehmlich Werke und Fragmente aus den sechziger Jahren zugänglich, die gewiß ins Umfeld der "Todesarten"-Texte gehören; abgefaßt wurden sie in Zürich, Berlin und Rom, dem späteren Wohnsitz der Bachmann. Sie chronologisch exakt zuzuordnen war offenbar nicht möglich, biographisch stehen sie im Kontext ihrer Trennung von Max Frisch, einem hochtraumatischen Erleben – mehr für sie als für den indolenten Helvetier.

Aus den nicht selten halbfertig komponierten Zeilen sprechen Depression und Lebensangst, Todessehnsucht und Verzweiflung: "Ich bin ganz wild von Tod", "Des Hauses Dame heißt man Tod", "Den Tod, ich habe in gewählt, so mild und leise", und der indiskrete Freund Bachmannscher Poesie darf erahnen, welches Maß an seelischer Verwüstung da einer angerichtet haben mag. Gequält ersehnt die obsessionell Veranlagte als "Gnade Morphium", wird ihr doch "die Gnade eines Briefs" verweigert. Interpretationen zu Gedichten bewegen sich allemal auf dünnem Eis. Zumal die hier in Rede stehenden zumeist unvollendet geblieben sind, handschriftlich Fixiertes wird faksimiliert geboten und belegt allerhand Vagheit bei der Formsuche. Manches scheint im Versuchsstadium abgebrochen worden, für nicht publikationswert befunden worden zu sein. Doch findet sich auch Vollendetes wie "Nacht der Liebe", "Dein Tod, und wieder" sowie "Katapult der Fäden", so daß, summa summarum, die vorzeitige Veröffentlichung des Materials eindeutig zu bejahen ist. Beckmesser mag die dürftige Kommentierung monieren und das Feilbieten unter falschem Etikett: Wie viele "letzte unveröffentlichte" Texte werden bis zum Jahr 2025 noch ediert werden? Verliert somit ein "gesperrter Nachlaß" nicht seinen Sinn? Gleichviel, im Jenseits mag Hölderlin seine teilentmündigte Kollegin trösten: Was aber bleibet, stiften die Dichter ...


 
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