© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/00 08. Dezember 2000

 
Pankraz,
Günther Jauch und die Sucht der Glücksspieler

Alarmrufe aus Gotha in Thüringen. Eine Psychologentagung, die dort soeben zu Ende ging, warnte in eindringlichen Tönen vor einer explosionsartigen Zunahme der "Spielsucht". Immer mehr Menschen würden dem "Glücksspiel" verfallen, mit fatalen Folgen für sie selbst und manchmal auch für ihre Angehörigen.

Das ewige Gerede im Fernsehen von der "Million", die für faktisch jeden zum Greifen nah vor der Haustür liege, das von den Medien angefachte "Börsenfieber", die ungenierte Ermunterung zum Abzocken allenthalben – all das löse bei zahllosen Zeitgenossen ein gefährliches Unempfindlichwerden gegenüber Risiken aus, verführe zum Schuldenmachen und zu Schlimmerem. Die Lotterie werde zum existentiellen Weichensteller. "Gegenmaßnahmen" seien fällig.

Pankraz bleibt gelassen, sagt sich: Wenn die Leute ihr Gespartes unbedingt zum Fenster hinauswerfen wollen, warum dann nicht im Glücksspiel, warum nicht in der Lotterie? Dort herrscht immerhin sympathische Eintracht, niemand versucht, den anderen übers Ohr zu hauen, kein Außenstehender wird geschädigt, wie so oft beim Börsenspiel, keinem wird die Nase eingeschlagen, wie so oft beim Kampfspiel Mann gegen Mann.

Wie im Kampfspiel gibt es im Glücksspiel zwar Sieger qua Gewinner und Besiegte qua Verlierer, aber der Verlierer wird nicht von irgendwelchen konkurrierenden Mitmenschen besiegt, sondern – ja, von wem? Was heißt es, wenn jemand sagt: Das "Los" hat mich besiegt, indem es sich als "Niete" erwies? Wer verhängt das Los, wer streut Treffer und Nieten aus?

"Der Zufall", sagt man, aber dieser Zufall ist eine gänzlich anonyme Macht, für die sich niemand verantwortlich machen läßt. Ihre Siege mögen Narben hinterlassen, doch Feindschaft und Rachegelüste hinterlassen sie nicht. Es sind gleichsam entgiftete Siege.

Nun mag ein Spieler, der in der Spielbank sein ganzes bißchen Vermögen auf Rot oder Impair gesetzt – und verloren hat, voller Bitterkeit klagen: "Ich kann hier keine Entgiftung sehen, das Los hat mich mit der vollen Wucht des Lebens getroffen und meine Existenz zerstört." Aber kein Mensch hat ihn gezwungen, auf Rot zu setzen oder überhaupt in die Spielbank zu gehen. Er hat seinen Bankrott ganz und gar selbst verschuldet, indem er sich auf ein Spiel mit "seinem Los" einließ, indem er den Zufall herausgefordert hat.

Für "Zufall" kann man auch "Schicksal" sagen: Der Glücksspieler fordert das Schicksal heraus. Und "Schicksal" ist natürlich nur ein anderes Wort für Gott. Der Glücksspieler fordert Gott heraus, und er tritt damit, ohne daß er das weiß, in eine uralte, erhabene kulturelle Tradition, wird fast so etwas wie ein Priester, der ein Gottesurteil erfleht.

Der Priester opfert, der Priester bittet – und er prüft Gott eben auch im Gottesurteil durch das Los. Das Loswerfen war fester Bestandteil jedes archaischen Gottesdienstes. Es stellte Gott vor eine binäre Entscheidung: entweder/oder. Und just dies ahmt der Glücksspieler in säkularisiertem Zusammenhang nach.

Lose sind nur im modernsten Zusammenhang, also wenn wir sie heute in der Lottostelle kaufen, ein zeichenloser Schein; frühere Lose waren als farbige Masken gezeichnet, oder es waren bunte Stäbchen, die so oder so fielen, rätselvolle Konstellationen entwerfend. Oder es waren Spielkarten mit allen möglichen Bildern darauf, oder es waren zumindest Würfelflächen mit bestimmten Punktekonstellationen.

Noch wir modernen Loskäufer können uns ja nur schwer mit der banalen Ziffer unseres Loses abfinden, geheimnissen vielmehr alles mögliche in die Ziffernkombination, für die wir uns entscheiden, hinein, verleihen ihr Farbe und Lebenserinnerung. Tief in uns lebt der Respekt vor der göttlichen Abkunft auch dieser Losziffer, wir lesen sie unwillkürlich als Orakel.

Das berühmte Orakel, das bei den Griechen eine so große Rolle spielte, war nichts anderes als eine etwas auseinandergezogene Losziffer. Die Pythia, die das Orakel verkündete, sprach bekanntlich nicht selbst; sie atmete so lange betäubende Dämpfe ein, bis sich ihr eigenes Urteilsvermögen komplett abmeldete und nur noch Apollo höchstpersönlich aus ihrem Munde tönte.

Was da zu vernehmen war, waren versprachlichte Lose, nämlich Rätsel. Die Pythia sprach nicht in der Eindeutigkeit eines banalen Nummernloses, sondern sie sprach in Rätseln, so daß jedes Orakel noch extra ausgelegt, hermeneutisiert werden mußte. Der Wille der Götter war doppelt maskiert, einmal im Orakel selbst und zum anderen in seiner Hermeneutik.

Die Hermeneutik war das Scharnier zwischen Loskult und Opferkult, denn die alten delphischen Rätsel waren fast durch die Bank Halsrätsel, bei denen es um Tod oder Leben ging. Hätte Ödipus das Rätsel der Sphinx nicht richtig beantwortet, wäre es um ihn geschehen gewesen, und so stand es auch mit all den anderen Rästeln, die in Mythen, Sagen und Märchen aufgegeben wurden, bis hin zum Rumpelstilzchen.

Heutige Glücksspieler müssen gewöhnlich nicht um ihr Leben fürchten; daß sich ein Spieler nach hohen Verlusten die Kugel gibt, kommt eigentlich nur in Romanen des neunzehnten Jahrhunderts vor. Der moderne Glücksspieler opfert nur Geld – aber er opfert es immerhin wirklich, im Gegensatz etwa zum Quizspieler im Fernsehen kann er die Rätsel des Orakels nicht im Konversationslexikon nachschlagen. Er muß den Schicksalsspruch, der ihm zuteil wird, extra noch deuten, auslegen, aber er darf sich an dem Gedanken erheben, daß er mit Gott (und nicht nur mit Günther Jauch) gespielt hat. Seine "Sucht" weist also ein ungemein vornehmes Pedigree auf. Das hätten die besorgten Psychologen in Gotha in ihrem Maßnahmenkatalog berücksichtigen sollen.


 
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