© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/00 08. Dezember 2000

 
"Ich vermisse eine Entschuldigung"
Mike Ruckh, Bürgermeister von Sebnitz, über die Medienkampagne und ihre Folgen für die sächsische Kleinstadt
Moritz Schwarz

Herr Ruckh, die Familie Kantelberg-Abdullah ist, nachdem sie zunächst an einen unbekannten Ort in Bayern ausgewichen war, nach Sebnitz zurückgkehrt. Wie soll es jetzt weitergehen?

Ruckh: Die Situation bei uns in Sebnitz ist mittlerweile ruhig, daran hat auch die Rückkehr der Familie nichts geändert. Die Sebnitzer waren in den letzten Tagen, die für uns alle wirklich eine sehr, sehr schwere Prüfung waren, ruhig und besonnen – und ich glaube, das werden sie auch weiterhin bleiben.

Sie haben die für vergangenen Sonntag anberaumte Lichterkette "Gegen Gewalt, Extremismus, Wegschauen – für Toleranz und Zivilcourage" wieder abgesagt. Warum?

Ruckh: Es gibt deutliche Hinweise, daß sowohl die rechte wie die linke radikale, gewaltbereite Szene unsere Stadt observiert und ausgekundschaftet haben, ob es möglich gewesen wäre, einen eigenen Aufmarsch zu machen, um unsere Kundgebung zu unterwandern. Diese Informationen haben mir Verfassungs- wie auch Staatsschutz bestätigt. Also haben wir uns dazu entschlossen, die Veranstaltung aus Sicherheitsgründen abzusagen. Wir wollten nicht, daß Gewalt von außen in die Stadt hereingetragen wird.

Trifft es zu, daß es in den letzten Tagen zu Drohungen gekommen ist?

Ruckh: Ja, aber diese Drohungen haben nicht unbedingt etwas mit eventuell geplanten politischen Aufmärschen zu tun. Im Zuge der Aufregung hier gab es Drohungen, zum Beispiel Bombendrohungen, gegen das Rathaus, meine Person, gegen die Zeugen – gleich welcher Seite übrigens – oder auch gegen die Apotheker. Diese Drohungen haben aber wohl weniger etwas mit Rechts und Links zu tun als vielmehr mit der Medienhysterie.

Nachdem es keine Beweise mehr für einen "Neonazi-Mord" zu geben scheint – warum wurde die Lichterkette nicht ganz klar als offensichtlich unbegründet abgesagt?

Ruckh: Gegenstand der Lichterkette war, Gesicht zu zeigen gegen Gewalt, Extremismus und Wegschauen und für Toleranz und Zivilcourage. Diese Veranstaltung war bereits geplant, bevor die neuen Vorwürfe im Falle Joseph veröffentlicht wurden – sie wurde aus diesem Anlaß lediglich vorgezogen. Es war aber keine Lichterkette für den kleinen Joseph geplant, das ist mißverstanden worden.

Ist es richtig, daß die Stadt Sebnitz nun in Erwägung zieht, gegen gewisse Massenmedien zu klagen?

Ruckh: Nein, überhaupt nicht. Das Wort "Klage" haben wir nie in den Mund genommen. Wir setzen auf eine freiwillige Wiedergutmachung. Das einzige, was wir tun werden, ist zu prüfen, was uns das Pressegesetz für Möglichkeiten gibt. Dennoch war bisher nicht von einer Klage die Rede.

Was für Vorwürfe machen Sie welchen Medien?

Ruckh: Ich will jetzt niemanden extra herausgreifen. Ich denke, es wurde ganz einfach zu wenig selbst recherchiert und zu vieles ungeprüft übernommen. Leider ist auf diese Weise die versammelte Boulevard-Presse auf den Bild-Zeitungs-Zug mit aufgesprungen. Aber auch die eigentlich seriösen Blätter, wie etwa die Süddeutsche Zeitung, deren Chefredakteur die Sache einfach damit abgehandelt hat: Man hätte vielleicht das eine oder andere Fragezeichen setzen müssen und nicht gleich Anklage und Verurteilung in einem Bericht liefern dürfen.

Angesichts dessen, daß aufgrund dieser Affäre eine Woche lang quasi der Ausnahmezustand ...

Ruckh: ... "Ausnahmezustand" ist richtig.

... über Sie verhängt wurde, wirken da Erklärungen, wie die vom Chefredakteur der "Süddeutschen" Hans Werner Kilz, nicht etwas lau?

Ruckh: Das muß ich auch sagen! Das ist wirklich etwas lau. Viele versuchen sich nun im nachhinein zu rechtfertigen. Erinnern Sie sich einmal, wie die Situation war, nachdem die Vorwürfe am Donnerstag vorvergangener Woche bekanntgeworden waren! Hätten wir versucht, uns am Donnerstag oder Freitag in irgendeiner Form zu rechtfertigen, dann wären wir tags darauf schon verbrannt gewesen. Es ist also doch wohl zu verstehen, daß ich es deshalb vermisse, wenn jetzt nach wie vor kein Wort der Entschuldigung fällt – nur eine einfache, aber klare Entschuldigung.

Etwas, was die Presse etwa von der Politik stets schnell verlangt. – Sie werden aber wohl keine Entschuldigung bekommen.

Ruckh: Ja, das denke ich auch. Ich habe darauf keinen Einfluß. Das ist Sache der Herren Chefredakteure und Journalisten. So wird das ganze eben als ein weiteres trauriges Kapitel in Sachen Massenmedien abgeschlossen werden. Ich vergleiche das mit dem Fall Gladbeck, wo die Medien eine moralisch genauso verwerfliche Rolle gespielt haben. Es ist einfach peinlich. Man hat daraus offenbar nichts gelernt. Allerdings, und das ist mir sehr wichtig, ich urteile nicht pauschal: Es gab durchaus auch Journalisten, die sich besonnen um Ernsthaftigkeit bemüht haben.

Müßten Sie aber nicht zumindest der "Bild"-Zeitung einen lauten Vorwurf machen, wenn schon nicht im Namen der Stadt Sebnitz, so doch im Namen all der Bürger, die direkt Opfer der "Bild"-Kampagne wurden wie die drei als tatverdächtig verhafteten Jugendlichen?

Ruckh: Das ist schon richtig, allerdings habe ich immer darauf vertraut, daß gerade die Unglaublichkeit derBild-Meldung – "Fünfzig Neonazis ertränken sechsjährigen Jungen" – für kritische Distanz gegenüber der Geschichte sorgen würde. Im Moment sind wir einfach noch zu sehr damit beschäftigt, den Scherbenhaufen zusammenzukehren. Ob ich mich danach einmal an die Bild-Zeitung wenden werde, werden wir dann sehen. Der Landkreis Sächsische Schweiz hat für die Stadt Sebnitz ein Spendenkonto eingerichtet. Vielleicht passiert ja das eine oder andere auch von alleine. Es würde von moralischer Größe zeugen.

Ministerpräsident Biedenkopf hat in der vergangenen Woche von "elektronischen Medien" berichtet, die neonazistische Zwischenfälle vor dem Haus der Familie des kleinen Joseph in Auftrag gegeben hätten.

Ruckh: Ich persönlich bin darüber nicht informiert worden. Gegenüber der Polizei wurden allerdings tatsächlich solche Aussagen gemacht. Sie verstehen, wenn ich mich an den Spekulationen, wer sich dahinter verbirgt, nicht beteilige. Ich sage nur, die Kripo wird in dieser Hinsicht ihre Arbeit schon machen, und Redakteure, die so etwas versucht haben, werden hoffentlich zur Verantwortung gezogen werden.

Daß Ihre Gemeinde vorschnell so massiv und einhellig verurteilt werden konnte, hängt doch vor allem mit jener Stimmung zusammen, wie sie von Politik und Medien zuvor erzeugt worden ist.

Ruckh: Auf jeden Fall. Ein Grundfehler liegt wohl in der Hysterie, die die Bundesregierung in der Sommerpause losgetreten hat.

Sie meinen zum Beispiel die Kampagne "Kampf gegen Rechts"?

Ruckh: Ja, sicher: das Problem so zu thematisieren, um das Sommerloch zu füllen, ein Thema zu besetzen. Dieses Vorgehen halte ich generell für nicht richtig. Bevor man zu großen Demonstrationen aufmarschiert oder sich zu Appellen erhebt, sollte man sehr genau überlegen, was man da tut. Solche Inhalte sollte man lieber in Programme umsetzen. Statt dessen wurde unverantwortlich eine Volkshysterie geschürt, deren Folgen jetzt bei uns zu besichtigen sind. Sicherlich – wir sind auf dem rechten Auge nicht blind, und man muß etwas gegen das gesellschaftliche Problem Gewalt tun, aber mit Maß und Ziel. Verteufelung alleine bringt gar nichts, außer Unheil.

Das eigentliche Problem aber bleibt doch bestehen: Zwar ist offenbar, die "Bild"-Zeitung hat erneut gelogen, alles geht schweigend nach Hause, der Generalverdacht aber, den man zuvor geschürt hat, bleibt bestehen. So mancher Kommentar in den Leitmedien zeigt, es besteht kaum Schuldbewußtsein, man fühlt sich trotz allem eigentlich im Recht.

Ruckh: Viele von denen, die am Anfang losgepoltert haben, sagen jetzt tatsächlich: Na ja, auch wenn an der ganzen Sache gar nichts dran war, aber ein großes Problem habt ihr ja doch! Mit Verlaub, ich finde das ein bißchen schwach. Spiegel-TV hat sich in seiner jüngsten Ausgabe leider genauso verhalten. Erst hat man versucht, sich reinzuwaschen, und sich immerhin bemüht, die Sache bis ins kleinste zu bereinigen, aber dann, in der Abmoderation hieß es tatsächlich, zwar sei nichts dran gewesen an der Sache, aber es sei traurig, daß es schließlich "hätte sein können". Das ist für mich nichts als die eigene Rechtfertigung, die man jetzt sucht. Ich verstehe das nicht.

Ihr Landkreis wird in den Medien unterschwellig als fest in der Hand von Skinheads dargestellt. Wie stellt sich die Situation tatsächlich dar?

Ruckh: In unserem Landkreis gibt es die Gruppe "Skinheads Sächsische Schweiz", kurz "SSS". Sie bleibt allerdings weitgehend im linkselbischen Teil des Landkreises. Die Reviere sind da offenbar aufgeteilt. In Sebnitz selbst haben wir es mit etwa zwanzig solchen Personen zu tun, bei einer Einwohnerzahl von über zehntausend. Allerdings ist dieser Personenkreis bisher bei uns noch nicht durch Gewalttaten aufgefallen. Das möchte ich auch klar sagen, denn rechtsextrem ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit gewaltbereit, wie das sonst gern dargestellt wird. Dennoch beobachten wir diesen Kreis und haben durchaus auch schon Schritte eingeleitet.

Haben Sie Erkenntnisse über die Personen, die unlängst, wie Spiegel-TV zeigte, vor dem Haus der Familie Drohungen ausstießen?

Ruckh: Spiegel-TV hat sich inzwischen selber bemüht, den Fall richtigzustellen. Die vier Betreffenden kamen zu später Stunde stockbetrunken von einem Spiel Dynamo Dresdens. Zuerst hat man vor dem Haus die üblichen Sachen vom Fußballplatz gesungen, dann aber hat man sich zu Sprüchen wie "Du stirbst morgen!" provozieren lassen. Dafür haben sich die Betreffenden inzwischen – der Haupt-Gröler vor laufender Kamera – auch entschuldigt und klargestellt, daß sie die Aktion selber nicht gut finden. So ein Verhalten ist natürlich dennoch nicht zu tolerieren, und dem wird auch strafrechtlich nachgegangen werden, aber so wie es ursprünglich in den Medien dargestellt wurde – so verhält es sich eben auch nicht. Das Bild, das man von Sebnitz gezeichnet hat, ist einfach falsch.

Welche Folgen – materielle wie seelische – fürchten Sie für die Stadt?

Ruckh: Natürlich haben einige Bürger nun sogar Existenzängste, etwa im Hotelgewerbe. Die Kampagne ging immerhin sogar bis zu Boykottaufrufen gegen Produkte aus Sebnitz! Deshalb macht es mir große Sorgen, daß die Gegendarstellung – wir wollen keine Generalabsolution – eben wohl nicht genauso groß wie die Anklage sein wird. Unterschätzen Sie dieses Problem für eine Stadt wie die unsere nicht. Dazu kommt außerdem noch ein zweiter Image-Schaden, an den die meisten Auswärtigen gar nicht denken. Wir versuchen unsere Stadt als attraktiven, modernen Erholungsort zu präsentieren. Das ist wichtig für uns. Viele Medien haben aber über uns nur als "Kaff" oder verhocktes "Dorf" berichtet, wo sich Fuchs und Hase "Gute Nacht" sagen. Das ist ein Image-Schaden, der gar nichts mit dem eigentlichen Fall zu tun hat, der aber selbst dann bleibt, wenn die Gegendarstellung genauso groß abliefe wie die Vorverurteilung. Erklären Sie dann mal den Leuten in Stuttgart auf der CMT oder anderen Touristik-Messen, warum sie ausgerechnet nach Sebnitz kommen sollen. Was die Menschen bei uns angeht, so werden wir im Dezember in aller Ruhe eine Bürgerversammlung abhalten, um die Möglichkeit zu geben, einmal den angestauten Frust abzubauen. Das brauchen die Menschen jetzt – sie brauchen in der Tat Fürsorge. Hauptaufgabe in den nächsten Wochen und Monaten wird aber sein, das Bild Sebnitz’ in der Welt – denn wir haben auch viele ausländische Medien hier – und damit auch das Bild Sachsens und Deutschlands wieder ins rechte Licht zu rücken.

Die drei Jugendlichen, die zunächst als Tatverdächtige verhaftet worden waren, galten für einige Tage in ganz Deutschalnd quasi als Bestien. Kümmert die Stadt sich auch um diese Opfer?

Ruckh: Ja, ich bin froh, daß Sie das Thema ansprechen, denn bei den meisten Berichten kommt ja gar nicht an, daß da drei Jugendliche nicht nur zu Unrecht beschuldigt und verdächtig, sondern auch vier Tage unschuldig in Haft gehalten worden sind. Ich habe die drei gleich nach ihrer Entlassung, da war die Sache ja noch nicht so klar, bei mir im Rathaus empfangen. Diese Bürger verdienen dieselbe Sorgfaltspflicht, wie man sie auch gegenüber der Familie Kantelberg einfordert. Deshalb sind wir auch weiter in Kontakt mit den Jugendlichen, um sie in ihrer Situation nicht alleine zu lassen. So eine Sache geht doch an einem normalen Menschen nicht spurlos vorüber, ich hoffe nicht, daß Traumata entstehen, aber der Vorfall wird sie natürlich wohl prägen.

Welchen Eindruck haben die drei bei ihrem Besuch auf Sie gemacht?

Ruckh: Sie waren noch deutlich bedrückt, allerdings auch besonnen – sie hätten ja auch wütend sein können. Aber von Zorn auf die Familie Kantelberg war nichts zu spüren. Ich war überrascht von ihrer Ruhe, allerdings hatten sie ja auch noch keine Zeit gehabt, aufzuarbeiten, was mit ihnen geschehen war.

Ist man in Sebnitz wütend auf die Kantelbergs?

Ruckh: Sicherlich Einzelne. Die Mehrheit ist aber in erster Linie einfach immer noch geschockt und fassungslos. Zorn richtet sich bislang vor allem gegen die Medien. Man sieht schon auch die seelische Notlage der Familie, daß aber andere Unbeteiligte, wie die Bild-Zeitung, einfach ungeprüft auf die Argumentation der Kantelbergs "aufgesprungen" sind, ist das, was eigentlich wütend macht.

Sie hatten zuvor persönlich mit Frau Kantelberg-Abdullah gesprochen. Wie wirkte sie auf Sie?

Ruckh: Ruhig und nicht sonderlich emotional, vor allem aber völlig überzeugt von ihren Theorien. Ich habe sie gebeten, ihre neuen Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft vorzutragen. Schließlich kann ich ja keine Ermittlungen führen. Mir gegenüber war auch noch nicht von Neonazis die Rede. Es ist ja bekannt, daß sie verschiedene Bürger in der Stadt verdächtigt hat. So gab es unter anderem Theorien in Richtung der anderen Apotheker oder auch in Richtung Stasi.

Das heißt, die Mutter hat verschiedene Theorien "durchgearbeitet", bevor sie sich dann auf die Neonazi-Theorie festgelegt hat?

Ruckh: Ja, das ist wohl so.

Weil diese Theorie in der gegenwärtigen Stimmung gesellschaftlich opportun war?

Ruckh: Wir alle haben in den letzten Tagen erfahren, wohin uns Mutmaßungen bringen. Deshalb möchte ich mich nicht daran beteiligen.

 

Mike Ruckh

ist seit 1993 Bürgermeister der sächsischen Stadt Sebnitz. Der gelernte Verwaltungsfachmann wurde 1964 in Heibronn am Neckar geboren und wuchs im württembergischen Bad Rappenau auf. Seit 1995 ist Ruckh Mitglied der CDU und führt seit 1999 den Fraktionsvorsitz der Partei im Kreistag des Landkreises Sächsische Schweiz.

 

weitere Interview-Partner der JF


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen