© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/00 08. Dezember 2000

 
Sprache der Konfrontation
Der EU-Gipfel in Nizza offenbart nicht nur nationale Eitelkeiten
Michael Wiesberg

Als die Wiedervereinigung unabwendbar war, setzte Präsident Mitterrand entschlossen auf die europäische Karte, um eine neuerliche Dominanz Deutschlands in Europa abzuwehren. Die Wirtschafts- und Währungsunion sollte der Zähmung der Mark dienen, als Anwendung des droit de regard in der erprobten Form. Die Strukturen dieser Europäischen Gemeinschaft sollten in einer "Europäischen Union" gefestigt werden, in der die Neutralisierung der Rivalitäten zwischen Frankreich und Deutschland zu den wichtigsten Aufgaben gehören sollte.

Das droit de regard ist eine Grundkonstante der französischen Außenpolitik. Es meint den Anspruch auf Einsichtnahme in und Einflußnahme auf die deutschen Angelegenheiten. Dieses Prinzip bestimmt bis heute die französisch-deutsche Nachbarschaft. Vor diesem Hintergrund sind auch die diplomatischen Winkelzüge im Vorfeld des EU-Gipfels von Nizza zu sehen. Hauptstreitpunkt der Auseinandersetzungen ist die künftige Stimmenverteilung unter den EU-Mitgliedstaaten. Frankreichs Präsident Chirac hat es bis kurz vor Gipfelbeginn kategorisch abgelehnt, daß das um 23 Millionen Menschen reichere Deutschland mehr Stimmen im EU-Ministerrat bekommt als Frankreich. Falls es bei diesem Streit keine Einigung geben sollte, wären die gesamten institutionellen Reformen gefährdet, die die Voraussetzung für die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten ab 2003 bilden. Nur mit einer Neugewichtung der Stimmenverteilung kann es als wahrscheinlich angesehen werden, daß eine um bis zu zwölf Staaten erweiterte EU überhaupt entscheidungsfähig bleibt.

Entgegen der herrschenden Meinung sind Mehrheitsentscheidungen in der EU-Rechtssetzungspraxis bereits weiter verbreitet als angenommen. Sie sind vielfach bereits die Regel. Schon mit der Einheitlichen Europäischen Akte aus dem Jahre 1986 und dem Vertrag von Maastricht im Jahre 1992 wurde die Mehrheitsentscheidung auf 42 Bereiche ausgedehnt. 80 Prozent der gesetzgeberischen Beschlüsse des EU-Ministerrats werden bereits mit Mehrheit entschieden. Es geht also jetzt darum, ob Mehrheitsentscheidungen zur Regel werden sollte. Von diesen Mehrheitsentscheidungen wären dann auch die Fiskal- und Sozialpolitik oder die Zuwanderungspolitik betroffen. Hier könnten im EU-Ministerrat Entscheidungen fallen, die unter Umständen gegen die nationalen Interessen von EU-Mitgliedern gerichtet sind.

Derartige Entscheidungen könnten aus französischer Sicht bedeuten, daß das droit de regard zunehmend gegenstandslos wird. Damit wäre aber die Konstante der französischen Deutschlandpolitik gefährdet. Frankreich sieht sein Gewicht in der EU aber noch von einer anderen Seite gefährdet. Premier Aznar will den Einfluß Spaniens weiter auszudehnen. Aus seiner Sicht muß Spanien, einer der Hauptprofiteure der Umverteilungspolitik der EU, der gleiche Einfluß wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien eingeräumt werden. Aznar, der als hemmungsloser nationaler Egoist innerhalb der EU mehr und mehr Kontur gewinnt, kündigte zwar "generös" an, nicht auf dieselbe Stimmenzahl wie die bevölkerungsreichsten EU-Mitgliedstaaten bestehen zu wollen. Dies gilt allerdings nur dann, wenn sich Deutschland mit seiner Forderung nach einer Neugewichtung der Stimmenverteilung durchsetzen sollte. Falls Frankreich die Oberhand gewinnen sollte, wolle Spanien bei der Stimmenzahl nicht länger zurückstehen. Eine derartige Konstellation sei, so kündigte Kanzler Schröder bereits an, nicht akzeptabel. Spanien oder Polen könnten, so Schröder mit Blick auf die Bevölkerungszahl und das Bruttoinlandsprodukt, nicht "so viele Stimmen wie Deutschland besitzen, das die doppelte Einwohnerzahl besitzt".

Wer die "Verhandlungskunst" deutscher Politiker auf EU-Gipfeln kennt, dürfte nicht sonderlich überrascht werden, wenn genau diese Szenario Realität werden sollte. Ein anderes Problem, das in Nizza zur Verhandlung ansteht, ist die künftige Struktur der EU-Kommission, die die Gesetzesinitiative in der EU hat. Nach der Ost-Erweiterung würde sie ohne Strukturveränderungen auf 27 oder mehr Mitglieder anwachsen und noch uneffizienter werden. Deutschland bevorzugt ein Modell, nach dem die Kommissarsposten zahlenmäßig begrenzt und in einem Rotationsverfahren besetzt werden. Sollte das Rotationsmodell an den kleinen EU-Ländern scheitern, tritt Deutschland für eine Hierarchisierung der Kommissare mit einem stärkeren Kommissionpräsidenten an der Spitze ein. Zweifel am Gelingen des EU-Gipfels nährte auch das vergangene EU-Außenministertreffen.

Der französische Außenminister Védrine machte deutlich, daß die offenen Fragen nur auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs gelöst werden könnten. Derselbe Védrine hatte zuvor seinen Kollegen Fischer in der Zeitung Libération als "Flötenspieler" abqualifiziert: "Die Völker haben in den vergangenen Jahrhunderten zu sehr unter Flötenspielern gelitten, die sie oftmals zu grausamen Enttäuschungen geführt haben." Védrine spielte mit dieser Äußerung auf Fischers Vision einer europäischen Föderation der Nationalstaaten an. Wer die arabeske Sprache der französischen Diplomatie kennt, wird so viel Offenheit zu deuten wissen. Das ist nicht die Sprache des Ausgleichs und der Mäßigung, sondern die Sprache der Konfrontation.


 
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