© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/00 01. Dezember 2000

 
Jedes Volk hat seine Leitkultur
von Carl Gustaf Ströhm

Als der Autor dieser Zeilen vor einigen Tagen in Gesellschaft eines ausländischen Freundes eher zufällig beim Anzapfen des Satellitenprogramms an eine der zahlreichen Fernsehdiskussionen geriet – Sendungen, die sich nur noch durch die Gesichtszüge ihrer Moderatoren, nicht aber inhaltlich voneinander unterscheiden – ging es wieder einmal um selbstquälerische deutsche Betroffenheit: um "Ausländerhaß", "Fremdenfeindlichkeit" und "rechte" Gewalt.

Alle Teilnehmer der Diskussion vertraten mehr oder weniger explizit "linke" Positionen – und der einzige "Paraderechte" des Abends, der langjährige Chefredakteur des CSU-Wochenblatts Bayernkurier, machte gleichfalls immer wieder seine Verbeugungen vor dem Geßlerhut der "political correctness" – indem er etwa betonte, in Bayern gebe es keine ausländerfeindlichen Exzesse, weil hier jedermann, der solches im Schilde führe, sofort eingesperrt werde.

Seltsam, wie sich das politische Klima geändert hat: In den Anfangszeiten der Bundesrepublik, als zum Beispiel noch die displaced persons – die verschleppten Personen – der Kriegszeit im Lande waren, sprach man nicht von Ausländerfeindlichkeit, und auch mit dem Begriff "Einsperren" verfuhr man, angesichts düsterer Erfahrungen aus der NS-Zeit (als man wegen Erzählens eines politischen Witzes im Konzentrationslager landen konnte), viel vorsichtiger.

Mein "ausländischer" Gast – Angehöriger eines der kleinen slawischen Völker, die durchaus Anlaß hätten, sich an den seinerzeitigen deutschen (eigentlich eher: nationalsozialistischen) Rassenhochmut zu erinnern – schüttelte nach wenigen Minuten des Zusehens den Kopf: eine solch quälende, gar wie er meinte, selbstzerstörerische Diskussion sei, so meinte er, in keinem anderen Volk denkbar. Die Russen, die unter Stalin ganze Völker dezimiert und soziale Schichten, wie etwa die Kulaken (Großbauern) zu Hunderttausenden "liquidiert" (ermordet) hätten, plagten sich – sieht man einmal von einigen wenigen Intellektuellen ab – keineswegs mit Gewissensbissen oder moralischer Selbsterforschung. Mein slawischer Gast, der sich selber bei den Deutschen auskannte, zitierte dann den Satz: "Deutschsein heißt – Dinge um ihrer selbst willen zu tun!"

Da ich mich in den vergangenen Jahrzehnten mehr im Ausland und meist im (ehemals) kommunistisch beherrschten Europa unter lauter Ausländern aufgehalten habe, ist mir die Einstellung vieler Ausländer gegenüber Deutschland und den Deutschen einigermaßen vertraut. Zu Beginn muß ich feststellen: die überwiegende Mehrheit der "nicht-deutschen" Menschen, mit denen ich täglich zu tun habe, sehen Deutschland ganz anders, als die selbstquälerischen Deutschen sich selber sehen. Ein kroatischer Arzt und seine Frau, die zwanzig Jahre lang in der Bundesrepublik gelebt hatten, sagten mir, sie hätten in all den Jahren zwischen 1975 und 1995 keinen einzigen Fall erlebt, wo sie oder irgend einer ihrer nicht-deutschen Freunde oder Bekannten feindselig oder auch nur unfreundlich behandelt wurden. Im Gegenteil: man sei ihnen in der kleinen norddeutschen Stadt, in der sie gearbeitet hätten, mit größter Freundlichkeit und Korrektheit begegnet. Um die Pointe zu vollenden: "Ausländerfeindlichkeit" habe er, so der Mediziner, erst nach der Rückkehr in seine Heimat erlebt – dort hätten ihn einige örtliche Bürokraten als "Ausländer" – nämlich als "Deutschen" – behandelt und ihm angeraten, er solle doch gefälligst wieder nach Deutschland gehen. Das aber waren Überreste der alten kommunistischen Bürokratie.

Selbst der Zweite Weltkrieg mit all seinen Greueln erscheint in differenziertem Licht. Ein Fernsehtechniker, mit dem ich vor einigen Jahren in Kroatien einen Film drehte, erzählte mir, er erinnere sich noch gut an die deutschen Soldaten, die in seinem Dorf einquartiert gewesen seien, denn sie hätten ihm und den anderen Dorfkindern immer wieder Schokolade und Süßigkeiten zugesteckt. Besonders ein Offizier habe ihm, dem damals Neunjährigen, immer wieder über das Haar gestrichen, und als seine Mutter den Deutschen fragte, warum er so nett zu ihrem Sohn sei, habe der Deutsche geantwortet: "Ich habe auch so einen Jungen daheim. Ich habe seit einem halben Jahr keine Nachrichten mehr von meiner Familie. Ich komme aus Hamburg – und da gibt es täglich Luftangriffe."

Sogar in Polen – einem Land, das zweifellos mit am meisten unter der NS-Besatzung und folglich "den Deutschen" zu leiden hatte, traf ich auf einfache Menschen, die mir sagten, die Soldaten der Wehrmacht seien in den meisten Fällen korrekt gewesen. Die "Wahrheit" hat also auch hier mehrere Facetten: der Durchschnittsdeutsche war nicht besser und nicht schlechter als andere Menschen auch – und so dürfte das auch bis zum heutigen Tag geblieben sein.

Im Gespräch mit meinem slawischen Gast kamen wir bald auf das Thema "Leitkultur". Der Gesprächspartner aus dem Osten störte lediglich das Wort, das für seinen Geschmack "zu gespreizt" klinge. Vom Inhalt her aber, so sagte er, könne er überhaupt nicht verstehen, warum es zu diesem Thema eine kontroverse Diskussion geben könne. Es sei doch selbstverständlich, daß die Polen Wert darauf legten, das "polnische", katholisch-abendländische Gesicht ihrer Städte zu wahren. Kein Pole würde es gerne sehen, daß morgen etwa das alte Krakau mit seinen Kirchen und Bürgerhäusern durch den Zustrom von Moslems islamisiert und mit Minaretten und Moscheen versehen würde. Es sei doch selbstverständlich, daß Budapest ungarisch sein und bleiben wolle – so wie Prag tschechisch und Tallinn/Reval estnisch oder Zagreb und Laibach/Ljubljana kroatisch und slowenisch geprägt seien.

Wie weit solche Empfindlichkeiten gehen, erlebte ich jüngst in Prag. Eine tschechische Dame – weltgewandt und mehrsprachig – sagte mir, sie habe eigentlich nichts (mehr) gegen die Deutschen, aber es störe sie doch, daß sich an zentralen Plätzen Prags die Leuchtreklametafeln deutscher Geldinstitute häuften. Man wolle nicht das Gefühl haben, von den westlichen Nachbarn aufgekauft zu werden. Die – in diesem Falle tschechische – "Leitkultur" hat also etwas mit der Bewahrung der eigenen Identität und Herkunft zu tun. Dabei ist natürlich ein Problem, daß derjenige, der mehr Geld hat, bei demjenigem, der keins oder nur wenig Geld hat, alles mögliche kaufen kann. Dem Ärmeren bleibt diese Möglichkeit versagt. Um beim umstrittenen Begriff zu bleiben: Die "tschechische Leitkultur" fühlt sich – trotz mancher Berührungspunkte und Ähnlichkeiten – von der deutschen "Kultur" (im weitesten Sinne dieses Wortes) überfahren oder an die Wand gedrückt. Daran ändern auch alle offiziellen Versöhnungsfeiern und schöne Reden nichts.

Auf der anderen Seite fühlen sich viele Tschechen unbehaglich angesichts der im Lande lebenden Roma, weil die ersteren – ob zu Recht oder nicht sei dahingestellt – der Meinung sind, die letzteren ließen sich nicht integrieren, sondern würden das Gesicht der Gesellschaft und des Landes fundamental verändern. So entsteht eine groteske Situation: Die Tschechen, die in der Hitler-Zeit als "minderwertige" Slawen diskriminiert und verfolgt wurden, diskriminieren ihrerseits heute ihre Roma-Minderheit. Dabei kommt es im konkreten Fall zu durchaus häßlichen und zu verurteilenden Zwischenfällen – aber die Angst davor, im "eigenen" Lande plötzlich als Fremdling dazustehen, läßt sich weder durch Verbote noch durch moralische Empörung aus den Leuten herausprügeln. Was sich einst gegen die Deutschen richtete, richtet sich jetzt gegen eine andere "Minderheit", der man – wiederum zu Recht oder Unrecht – unterstellt, das vertraute Gesicht des Landes verändern zu wollen.

Ein besonderes Beispiel sind die baltischen Nationen, die Esten, Letten und Litauer. Besonders für die Esten stellte das "russische Problem" eine schwere Belastung dar. Fast ein halbes Jahrhundert waren die Russen als Sowjetmenschen unter dem roten Stern und Hammer und Sichel die unbeschränkten Herren des Baltikums. Den baltischen Nationen wurde von außen eine "fremde" Leitkultur aufgepropft: In Estland oder Lettland konnte jeder Russe erwarten, daß auf den "einheimischen" Ämtern und Behörden der formell eigenständigen Estnischen und Lettischen Sowjetrepubliken – Russisch gesprochen und verstanden wurde. Ein estnischer Funktionär, der noch vor fünfzehn Jahren von einem Russen verlangt hätte, Estnisch zu lernen, wäre vermutlich als "Nationalist" gefeuert worden.

Nach der Unabhängigkeit schlug das Pendel um: die Esten und Letten verlangten, daß die im Lande lebenden Russen – in Estland ein Drittel der Bevölkerung, in Lettland noch mehr – die Landessprache lernen müßten. Das wiederum empfanden die nun vom "Herrenvolk" zur Minderheit "degradierten" Russen als Zumutung und appellierten plötzlich an die westlichen Instanzen, welche die "Menschenrechte" zu verteidigen hatten. Aus den Russen, die gestern noch unter sowjetischer Flagge die Esten russifizieren (und damit ihrer Identität und Kultur berauben) wollten, waren plötzlich – "Verfolgte" und "Diskriminierte" geworden, die das Recht auf den Gebrauch der russischen Muttersprache (zum Beispiel auf Ämtern und Behörden) einklagten.

Wenn man so will, insistierten die Esten – um bei diesem Beispiel zu bleiben, aber die Letten und Litauer unterscheiden sich davon nicht prinzipiell – auf ihrer "estnischen Leitkultur", die geprägt ist von mindestens 700jähriger Zugehörigkeit zum skandinavisch-norddeutsch-hanseatischen Kulturkreis. Jeder Stein, jedes Denkmal, jedes Dokument und Bauwerk, welches bezeugen konnte, daß Estland (respektive Lettland oder Litauen) nicht zum ostslawischen, russischen, orthodoxen Bereich – sondern zum Westen, zum "germanisch-römisch Rechtssystem" gehörte, wurde sorgsam gepflegt, ausgegraben, wiederhergestellt. Sogar die großen deutschen Soldatenfriedhöfe westlich der Grenzstadt Narva wurden wiederhergestellt (nachdem sie unter den Sowjets plattgewalzt worden waren), um diese "westliche" Verbindung Estlands zu unterstreichen.

Die Sorge vieler Esten ist es, das Land könnte auf Dauer die kulturelle und mentale "Andersartigkeit" gegenüber dem überwältigenden russischen Nachbarn nicht aufrechterhalten und werde – diesmal vielleicht ohne Panzer – friedlich vom überwältigenden russischen Nachbarn überrollt werden. So kommt es, daß die Esten eifersüchtig über ihre estnische Sprache und "Leitkultur" wachen. Sie sind der Auffassung, dies sei für eine kleine Nation von knapp einer Million Einwohnern eine Frage von Leben und Tod.

Die westlichen Emissäre freilich sehen das anders: Der europäische Minderheitenbeauftragte Max van der Stoel hat sich die Pflege und Förderung der russischen ("diskriminierten") Minderheit in Estland zur Lebensaufgabe gemacht – sehr zum Mißvergnügen mancher Esten, die gerne eine Vergleich gebrauchen: daß nämlich jetzt eine Situation entstanden sei, in der die Katze, die bisher die Mäuse jagte, sich beklagt, sie werde von den Mäusen (den baltischen Völkern) "diskriminiert" und "bedroht".

Szenenwechsel: Der Irrtum auf dem sogenannten "Balkan" – der aber eigentlich gar kein richtiger Balkan ist, weil neuerdings typisch "unbalkanische" Gebiete – wie etwa das mitteleuropäisch, teils österreichisch-ungarische, teils mediterran gegrägte Kroatien ebenso wie Slowenien (oder Ungarn) trotz landläufiger Mißverständnisse im Westen kein Balkanland ist. Der Westen hat bis heute nicht richtig verstanden, daß die jüngsten kriegerischen Auseinandersetzungen in Kroatien, Bosnien und im Kosovo nicht von einigen "Nationalisten" böswillig angezettelt wurden, um das jahrhundertlange (angeblich) friedliche Zusammenleben zu stören, sondern daß hier zivilisatorische, mentale, religiöse und ethnische Trennungslinien wie bei einem Erdbeben aufgebrochen sind. Diese Trennungslinien und Brüche waren seit Jahrzehnten und Jahrhunderten vorhanden – nur wollte der Westen sie nicht wahrnehmen.

Die nichtserbischen Nationen des ehemaligen titoistischen Jugoslawien werfen Belgrad und der serbischen Führungsschicht vor, einmal im monarchistisch-orthodoxen Gewande (nach 1918) und zum anderen unter der kommunistischen Partisanenfahne Titos (nach 1945) serbische Interessen und serbische Hegemonie verbreitet zu haben. Der Sturz des Kommunismus bedeutete somit auch die Chance zur nationalen Selbstbestimmung. Kroaten, bosnische Moslems, Kosovo-Albaner, Mazedonier mußten ihre nationale Identität – wiederum in erster Linie Sprache und Religion (im Falle Kroatiens: katholisch gegen orthodox) bewahren. Wiederum taucht hier der gleiche Tatbestand auf, auch wenn der Begriff "Leitkultur" nicht verwendet wurde: Es ging und geht um Identität, um die Bewahrung der "Eigenständigkeit". Natürlich kann das auch zu heftigem Ausschlagen des Pendels führen. So wie die junge Generation in Estland sich weigert, Russisch zu lernen – so wollen die jungen Kroaten nicht mehr das kyrillische Alphabet lernen, das Russen und Serben miteinander gemeinsam haben. Kann man das als "nationalistisch" verurteilen – oder handelt es sich nicht vielmehr um die Reaktion auf jahrelange negative Erfahrungen, die in kollektive Erinnerungen umgeschlagen sind?

Der Versuch des Westens, alles auf der Ebene des "Multikulti" und der Vermischung zu lösen, kann keinen Erfolg haben. Im Gegenteil: die dekretierte Vermischung schafft neue Konfliktsituationen. Kleinen Völkern von außen vorschreiben zu wollen, wie sie zu leben haben, kann nur zu neuen Verkrampfungen und Feindseligkeiten führen. Statt dessen sollte man akzeptieren, daß jedes Volk – und so es noch so klein ist – ein Recht auf Identität und Selbstverwirklichung hat. Das mag man dann Leitkultur nennen oder auch anders. Name ist da vielleicht Schall und Rauch – auf den Inhalt kommt es an. Hier könnte man getrost den alten Fritz zitieren: Jeder – auch jede Nation – sollte nach eigener Facon selig werden.

Dazu gibt es ein altes russisches Sprichwort: Man soll nicht mit eigenen Regeln in ein fremdes Kloster gehen. Leider besteht gerade im gegenwärtigen Westen eine gewisse Neigung, vor lauter "Toleranz" intolerant zu sein und alles über einen Kamm zu scheren. Der Westen, auch die EU, muß lernen, daß er keineswegs über alleinseligmachende Rezepte verfügt. Wer das nicht begreift, wird auch in Fragen der "Leitkultur" nicht einfühlsam und behutsam agieren.

 

Dr. Carl Gustaf Ströhm war langjähriger Osteuropa-Korrespondent der Tageszeitung Die Welt.


 
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