© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/00 01. Dezember 2000

 
"Es wurde psychologischer Druck ausgeübt"
Todesfall von Sebnitz: Ein Gespräch mit dem katholischen Ortspfarrer Norbert Mothes über die Hintergründe
Moritz Schwarz

Herr Pfarrer Mothes, vor drei Jahren kam der sechsjährige Sohn der Familie Kantelberg-Abdullah im Freibad von Sebnitz zu Tode. Die Eltern behaupten seitdem, ihr Sohn sei ermordet worden.Wann haben Sie zum erstenmal etwas davon in der Stadt gehört?

Mothes: Mir ist die Center-Apotheke der Kantelberg-Abdullahs, die in einem auffälligen grünen Fachwerkhaus untergebracht ist, natürlich bekannt. Auch wenn ich die Familie nicht persönlich kenne, so hörte man doch, daß in der Apotheke die Behauptung "an den Mann gebracht wurde", wenn ich mich einmal so ausdrücken darf, der Sohn der Familie sei ermordet worden. Sagen wir mal, es wurde dies den Besuchern dort, ob diese es wollten oder nicht, durchaus in einem längeren Gespräch, immer wieder nahegelegt.

Was meinen Sie mit "nahegelegt"?

Mothes: Man kann sagen, es wurde von dort aus versucht, einen gewissen psychologischen Druck auszuüben.

Auf wen genau?

Mothes: Zumindest auf all jene, die dort das Thema angeschnitten oder sich danach erkundigt haben.

Wie schätzen Sie diese von der Familie Kantelberg-Abdullah so "verbreitete" Darstellung der Dinge ein?

Mothes: Ich habe bereits der taz gegenüber erklärt, daß mir der Fall, so wie ihn die Kantelberg-Abdullahs darstellen, reichlich konstruiert erscheint.

Was veranlaßt Sie zu dieser Bewertung?

Mothes: Wegen des behaupteten neonazistischen Hintergrundes. Ich habe gleich darauf hingewiesen, daß die verhafteten drei Jugendlichen nicht einer Neonazi-Szene zugeordnet werden können, wie dies in einigen Medien sofort mit dicken Schlagzeilen behauptet wurde. Und mittlerweile ist die Haltlosigkeit dieses Vorwurfes ja auch anerkannt.

Kennen Sie die drei Jugendlichen, die vorübergehend verhaftet wurden, persönlich?

Mothes: Persönlich kenne ich das andere Apothekerehepaar, die Schneiders, Eltern der Uta, einer der drei Verhafteten, inzwischen aber wieder auf freien Fuß gesetzten, Jugendlichen.

Wie hat Herr Schneider Ihnen gegenüber den Fall dargestellt?

Mothes: Es gibt schon seit längerem eine Art üble Nachrede zwischen allen drei Apotheken am Ort, aber auch zwischen der Apotheke Kantelberg-Abdullah und den Ärzten. Es sind anonyme Briefe aufgetaucht, die sich gegen die Familie Schneider gerichtet haben.

Und Herr Schneider vermutet die Urheberschaft in der Center-Apotheke der Familie Kantelberg-Abdullah?

Mothes: Wie gesagt, die Briefe waren anonym. Diese Entwicklung hat sich aber in solchem Maße zugespitzt, daß Herr Schneider schließlich zur Polizei gegangen ist, um Anzeige zu erstatten.

Gegen wen?

Mothes: Gegen unbekannt.

Welcher Art waren die Briefe, die Herr Schneider erhalten hat? Vorwürfe, Beleidigungen, Drohungen?

Mothes: Es handelte sich um moralische Vorwürfe.

Schuld zu sein am Tode von Joseph Abdullah?

Mothes: Bitte haben Sie Verständnis, wenn ich hier nicht mehr sagen möchte, als daß die Familie Schneider verleumdet wurde.

Was steckt hinter dem Konflikt zwischen der Center-Apotheke und den Ärzten?

Mothes: Wegen dieser Sache ermittelt ja nun auch die Staatsanwaltschaft. Es ist aber völlig unklar, was dahintersteckt. Momentan tappt da nicht nur die Polizei, sondern noch auch alle Journalisten im Dunkeln. Selbst für mich stellt sich diese Sache noch als sehr mysteriös dar.

Handelt es sich bei dem Tod des kleinen Josephs nach Ihrer Meinung um Mord oder um einen Unfall?

Mothes: Ich vergleiche das immer mit einer weißen Tafel, auf die von der Bild-Zeitung der Öffentlichkeit ein Bild gezeichnet wurde. Von diesem abstrusen Bild wurde nun in den letzen Tagen Eckchen um Eckchen weggewischt. Wir müssen abwarten, welches Bild am Ende übrigbleibt. Und ich glaube daran, daß die Ermittlungen den Fall weitgehend aufklären werden.

Haben Sie eine persönliche Vermutung?

Mothes: Ich glaube – und das teile ich mit den gutrecherchierenden Journalisten – daß sich ein Kern der Behauptung der Familie Kantelberg-Abdullah bewahrheiten könnte.

Das heißt Sie halten ein Verbrechen für wahrscheinlich?

Mothes: Das heißt, ich schließe – unabhängig von den bisher Beschuldigten – einen strafrechtlich relevanten Vorgang in der Sache nicht aus.

Wer könnte diesen "strafrechtlich relevanten Vorgang" verübt haben?

Mothes: Bitte haben Sie Verständnis, wenn ich Ihnen erneut eine Antwort verweigere. Aber einen Verdacht zu äußern, ist in dieser Angelegenheit zu schwerwiegend.

Eine neonazistische Szene wurde von der "Bild"-Zeitung sofort ungeprüft zum Täter erklärt. Auch wenn Sie dies ausschließen, gibt es eine solche Szene in Sebnitz und wenn ja, inwiefern tritt sie in Erscheinung?

Mothes: Meine erste "Begegnung" damit hatte ich, als ich bereits hier wohnte und mich mein Bruder per Autobus von Dresden aus besuchte. Dort, am Dresdner Busbahnhof, hatte jemand auf den Fahrplan nach Sebnitz geschrieben: "Sebnitz – braunes Kaff". Mir waren durchaus im Stadtbild zuvor schon einige Glatzen aufgefallen, doch ich konnte nicht zuordnen, ob es sich dabei um politische Bekenntnisse handelt oder nicht. Ich beleuchte das von verschiedenen Seiten. Einerseits war ich einer der ersten, der klar und deutlich gesagt hat, daß ein behaupteter neonazistischer Hintergrund nicht wahr ist. Andererseits erzähle ich aber frank und frei auch von meinen unerfreulichen Beobachtungen: Am Volkstrauertag vor einem Jahr wurde ich auf dem Heimweg von einem ökumenischen Gottesdienst mit anschließendem Kirchenkaffee zufällig Zeuge einer Kundgebung von Skinheads an einem Kriegerdenkmal. Es war eine unwirkliche und ungeheuerlich wirkende Szene. Auch der Chef der Polizei hat mir schon von Auffälligkeiten berichtet.

Man gewinnt aus der Berichterstattung der letzten Tage den Eindruck, daß Skinhead-Gruppen in Sebnitz an jeder Ecke stehen und immer wieder in aller Öffentlichkeit pöbeln oder gar Menschen bedrohen.

Mothes: Man weiß gar nicht, wo die plötzlich alle herkommen. Es ist so, als würde man das jetzt als Plattform benutzen, um sich zu präsentieren.

Teilen Sie die Auffassung Ihres evangelischen Pfarrerkollegen Creuz, daß die Mutter ihre Aufsichtspflicht verletzt hat?

Mothes: Da diese Sache hochbrisant ist, habe ich lediglich eine ganz stereotype Antwort für Sie: Als ich sechs Jahre alt war, war es selbstverständlich, daß meine damals dreijährige Schwester mit mir unterwegs war. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.

 

Norbert Mothes, geboren 1959 in Dresden, aufgewachsen in Freiburg, ist seit 1988 katholischer Pfarrer in Sebnitz.

 

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