© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/00 24. November 2000

 
Die Schuldlosigkeit des Fremdenführers
Uwe Johnsons Werk "Jahrestage" setzt keine moralischen Trennlinien zwischen Anpassung und Widerstand
Doris Neujahr

Die Verfilmung von Uwe John sons "Jahrestage" durch Mar garete von Trotta ist einer der wenigen Lichtblicke in der deutschen Fernsehlandschaft. Johnsons Deutschland-Epos hat hiermit die Chance erhalten, erstmals, wenn auch vermittelt, verändert, banalisiert durch ein anderes Medium, einem breiten Publikum bekannt zu werden. Das vierbändige Werk, an dem der Autor seit Ende der sechziger Jahre bis 1983 gearbeitet hat, wird zwar oft zitiert, doch selten gelesen – was bei einem Umfang von fast 2.000 Seiten kein Wunder ist.

Die "Jahrestage" erzählen, erstens, die Geschichte der 35jährigen Wahl-New Yorkerin Gesine Cresspahl zwischen dem 21. August 1967 und dem 20. August 1968. Sie schließen, zweitens, die weltpolitischen Ereignisse – Vietnamkrieg und "Prager Frühling" – ein, die Gesine in der New York Times verfolgt. Und sie enthalten, drittens, Gesines Bericht an die Tochter Marie – "für wenn ich tot bin" – über ihr und ihrer Familie Leben im mecklenburgischen Jerichow seit 1920.

Ein größerer Kontrast als der zwischen New York und Mecklenburg ist kaum denkbar. Einerseits die exemplarische Weltstadt, das Zentrum der Moderne, der politische, soziale, ethnische Dschungel, in dem das einzig Beständige die Unbeständigkeit ist. Andererseits Mecklenburg, tiefste deutsche Provinz, wo die mittelalterlichen Ritterschaften ihre Macht bis 1918 behaupteten und alle Versuche zu Fall brachten, die Ständevertretungen durch gewählte Landtage zu ersetzen: kein Ort für aufgeklärtes Bürgerbewußtsein und Geistesleben. Im Gegenzug blieben Lebensformen, die anderswo längst aufgesprengt waren, hier real und lebendig. Zu ihnen gehörte eine naturgesetzlich empfundene Verwurzelung in der Heimat.

Im Buch finden sich Sätze wie: "Hinter dem Haus stand ein schwarzer Baum voller Amseln. Nach Süden, Westen, Norden hin war es leer um den Hof. Nur der Wind sprach. Im Norden war ein Loch zwischen Erde und Himmel, ein Streifen Ostsee." Marcel Reich-Ranicki polterte deswegen, Johnson produziere "Blut- und Bodenliteratur". Ihn irritierte, daß Johnsons Heimatbegriff das Soziale und Politische mit der gleichen Selbstverständlichkeit umspannte wie spirituelle, emotionale, anthropologische Aspekte, daß Johnson thematisierte und dialektisch aufhob, was nach dem "Dritten Reich" als Tabu galt.

Heimat ist bei Johnson etwas sehnsüchtig Erinnertes und zugleich durchweg Zwiespältiges. Dieser Zwiespalt wird in und zwischen den Eheleuten Heinrich und Lisbeth Cresspahl, Gesines Eltern, ausgetragen. Sie kehren 1933 aus England, wo sie seit Jahren leben, nach Deutschland zurück. Ihre Motivation ist im Film zu kurz gekommen: Es ist die heimatliche Anmutung, die von Mecklenburg ausgeht. Für sie, die unmittelbar Betroffenen, ist die geschichtliche Zäsur dort nicht sichtbar, wo sie nachträglich, in den Geschichtsbüchern, gesetzt wird.

Der Preis, den sie zahlen, heißt Anpassung. Deren Funktionsweise hat Johnson bis in die feinsten Verästelungen gezeigt. Der Hitler-Gegner Heinrich Cresspahl übernimmt Tischlerarbeiten für den neuen Flugplatz bei Jerichow, wohl wissend, daß er damit Hitlers Kriegsvorbereitungen unterstützt. Das Wissen, das er verdrängt, wird für die tiefreligiöse Lisbeth zum Ausgangspunkt eines Passionsweges, der sie in den Selbstmord führt. Ihre mutig-verzweifelten Widerstandshandlungen können in der konsolidierten Diktatur höchstens von symbolischem Wert sein. Wenn sie, um ein Zeichen ihrer Buße zu setzen, die kleine Gesine hungern und fast ertrinken läßt, wird ihre moralische Rigorosität fragwürdig. Ihre Selbstverbrennung vermag einige, wenige Menschen aufzurütteln, andererseits verliert Gesine die Mutter. Johnson hütet sich vor einfachen Bewertungen und setzt zwischen den Prinzipien Widerstand und Anpassung keine moralische Trennlinie. Beide können sich ergänzen, und ethische Überzeugungen bewähren sich im taktischen Kompromiß mitunter effektiver als in der dramatischen Aktion. Auch in der NS-Diktatur erschöpfte das Leben sich nicht im Schwarz-Weiß-Kontrast.

Der Holocaust ist ein zentrales Motiv des Buches. Er modifiziert den ursprünglich an Mecklenburg gebundenen Heimatbegriff und bildet das heimliche Motiv für Gesines Umzug nach New York. Die Heimat, die Ungeheuer geboren und sich ihnen unterworfen hat, ist als natürlicher Lebenszusammenhang für immer zerstört. Dieser Zusammenhang kann nur noch als unerfüllbare Sehnsucht erinnert werden, am klarsten in New York, der "Heimat der Heimatlosen".

Wie stark Gesines Entscheidung die persönlichen Skrupel Johnsons widerspiegelt, zeigt sich unmittelbar in der Romanpassage, in der Johnson unter eigenem Namen auftritt und sein Fiasko vor einer Versammlung des Jewish American Congress 1967 schildert. Er war gekommen, um "den Juden New Yorks etwas zu erzählen über die Wahlerfolge der westdeutschen Nazipartei" (der NPD, D.N.), in der Annahme, selber unanfechtbar zu sein. Doch unversehens wurden ihm die Namen deutscher KZs als persönliche Vorwürfe entgegengeschleudert. Er "hatte noch nicht begriffen, daß Zeit und Adresse ihm die Schuldlosigkeit des Fremdenführers aus den Händen genommen hatten und ihm jedes analytische Wort im Munde umdrehten zu einem defensiven".

Eine paradoxe Situation: Johnson, der mehr als andere bereit war, die NS-Verbrechen als geschichtliche und moralische Hypothek anzunehmen, war eben dadurch wehrlos gegenüber solchen – ungerechten – Reaktionen. Er mußte der Tatsache ins Auge sehen, daß die historische Ausnahme-Konstellation noch den gutwilligsten Deutschen unter moralischen Erwartungszwang und Generalverdacht stellte und jeden Versuch eines argumentativen Diskurses zerstörte. Eine Erfahrung, auf die er bereits 1961 einen Vorgeschmack bekommen hatte und die ihn bis ans Lebensende begleiten sollte.

Am 11. November 1961, drei Monate nach dem Mauerbau, war Johnson in Mailand in einer öffentlichen Diskussion mit dem Schriftsteller Hermann Kesten zusammengetroffen. Kesten, Jahrgang 1900, jüdischer Emigrant, nannte Brecht einen "Diener der Diktatur". Dagegen führte Johnson an, Brecht habe mit dem Berliner Ensemble "ein Beispiel des Überlebens geboten (...), auf das es mehr ankommt als auf kurzfristige moralische Entscheidungen". Der Disput eskalierte über den Mauerbau, den Johnson stets im Zusammenhang mit der einseitig auf Westintegration ausgerichteten Politik Adenauers betrachtete. Für Kesten geriet der Abend zum Desaster. Er rächte sich, indem er am 17. November in derWelt behauptete, Johnson habe geredet, "als wäre er Ulbricht"; er habe die Mauer "gut, vernünftig und sittlich" genannt. Davon stimmte kein Wort. Johnson konterte: "Ich nenne Hermann Kesten einen Lügner". Seine Version wurde durch Tonbandmitschnitte belegt. Doch zunächst drohten ihm gesellschaftliche Stigmatisierung und, in der Folge, die Vernichtung seiner schriftstellerischen Existenz.

Er befand sich in der "klassischen Situation eines Menschen, der sich ungestört glaubt in seinen Funktionen; nun saß er Leuten gegenüber, die ihn öffentlich des Wahnsinns bezichtigt wußten, und hatte keinen Beweis für seine mentale Gesundheit." Die Zeit, an die er sich hilfesuchend wandte, lehnte eine Richtigstellung ab. Kesten trieb seine Verleumdung auf die Spitze und veröffentlichte eine Novelle über einen Mauertoten, den er mit seinen eigenen biographischen Daten ausstattete, während einer der Mauerschützen unverkennbar Johnsons Züge trug.

In seinen "Frankfurter Vorlesungen" sprach Johnson 1979 aus, "daß hier jemand seine antifaschistische und jüdische Reputation mißbrauche. In der Tat war sie es ja gewesen, die eine große Menge seiner Leser verleitet hatte dazu, erst einmal ihm zu glauben." Zu diesem Zeitpunkt hatte er eine neue Niederlage gegen Kesten erlitten, der seine falsche Darstellung des Mailänder Auftritts im Almanach der Büchner-Preisträger publiziert hatte. "Was er neuerdings, mündlich und in privatem Kreise, durchblicken ließ, war gedacht für eine Verbreitung durch Weitersagen. Wie könne er auch erwarten: klagte Hermann Kesten: daß man auf ihn höre, den niedrig gewachsenen, unansehnlichen Juden. Wenn hingegen so ein großer blonder Arier daherkomme ..." Johnsons Interventionen gegen diese "öffentliche Denunziation" beim Präsidenten der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung, Peter de Mendelssohn, nutzten nichts, was er darauf zurückführte, "daß die Herren Mendelssohn und Kesten einander schon etwas länger kennen". Ihm blieb nur der Austritt aus der Akademie.

Johnson hatte die Willkür der "Moralkeule" ereilt. Der Verleger Giangiacomo Feltrinelli, Initiator des Mailänder Gesprächs, bemerkte in einem offenen Brief zur Unterstützung Johnsons: "Daß diese Dinge in Deutschland allzu oft benutzt werden, um einen politischen Gegner zu liquidieren und zu verleumden, bleibt nur ein Zeichen dafür, wie fremd die Demokratie gewissen Gruppen der öffentlichen Meinung in Deutschland ist."

Nur beruhte der Konflikt gar nicht auf politischen Differenzen – in ihrer humanistischen, antitotalitären Einstellung waren Kesten und Johnson sich einig –, sondern auf den tragischen Aporien des deutsch-jüdischen Verhältnisses. Kesten war "mit neunundzwanzig Jahren", so Wolfgang Koeppen in einer einfühlsamen Laudatio, "ein anerkannter, ein durchgesetzter Autor" gewesen. Eine Karriere, die die Nazis zerstört hatten. Nach dem Holocaust hatte Kesten "mehr Freunde unter der Erde als in (s)einem Adreßbuch".

Im deutschen Literaturbetrieb faßt er nie wieder richtig Fuß. Von Johnson, dem neuen Star der deutschen Literatur, öffentlich gesagt zu bekommen, daß seine ästhetischen, politischen, ja selbst moralischen Kriterien nicht mehr ausreichten, um die deutsch-deutsche Wirklichkeit zu beurteilen, mußte ihn verbittern. Feltrinelli: "Ich sehe noch jetzt Ihre Verwirrung über die Reaktion des Publikums und der am runden Tisch sitzenden Kritiker." Gegen das Gefühl erneuter Zurücksetzung konnte er nur in Stellung bringen, was für sein Opferkapital zu halten er Gründe hatte. Dieser moralisierenden Argumentation gegenüber befand Johnson sich in aussichtsloser Lage, und so ließ der wiederum 1979 neben dem Zorn auch Mitleid darüber anklingen, "daß dieser Mensch nach siebzehn Jahren seine Fälschungen feierte als ein biographisches Datum von Nennwert".

Johnson hat, um einer propagandistischen Vereinnahmung vorzubauen, immer darauf bestanden, 1959 aus der DDR nach West-Berlin "umgezogen", statt geflüchtet zu sein. Es war natürlich trotzdem eine Flucht gewesen. Und so sehr er für seinen Umzug 1974 nach England finanzielle Erwägungen und das Bedürfnis nach privacy geltend machte, es spielte auch die Einsicht eine Rolle, daß Deutschland auf unabsehbare Zeit kein freier Ort mehr für geistige Arbeit und eigenständige Positionen sein konnte. "Heimat" ließ sich noch am ehesten dadurch realisieren, indem er den umgekehrten Weg von Heinrich Cresspahl ging.

Die Zwischenfälle in New York und mit der Darmstädter Akademie bestärkten Johnson in der Überzeugung, "daß die westdeutsche Wirklichkeit im Vergleich zur ostdeutschen Wirklichkeit keine echte Alternative darstellt, keine nationale. Eine vernünftige Entscheidung ist also nicht möglich."

An dieser Alternativlosigkeit leidet auch Gesines Mitschüler Robert Pagenkopf. Robert entschließt sich Anfang der fünfziger Jahre, dem exklusiven, paramilitärischen Aero-Club in Cottbus beizutreten, der Keimzelle der DDR-Luftwaffe. Er glaubt keineswegs an das ernstere, tiefere Leben im Sozialismus, das den frühen Romanhelden von Christa Wolf verheißen wird, sondern er setzt bewußt auf eine machtgeschützte Innerlichkeit, um in ihr ein Höchstmaß an persönlicher Autonomie zu verwirklichen. Als Gesine ihn auf die Gefahr politischer Indoktrination hinweist, sagt er: "Da ist es Dienst, Gesine. In der Armee muß der Vorgesetzte mir glauben, was ich ihm aufsage, und keiner im Glied darf zweifeln, daß ich das glaube. Dann ist das Zwinkern weg, das kaputte Lächeln, das deine Lüge überführt und belobigt in einem. Dann darf ich denken, was ich will, und keiner wird es erfahren."

Er wird Berufsoffizier und von den Sowjets als Testflieger angeworben: "Auf den Fotos steht er immer allein, ein junger Mann in einem Maßanzug, der britisch anmuten soll; blickt hochmütig, aus der Ferne; für einen Unterleutnant ein Vorbild, für einen ostdeutschen Offizier eine Respektperson." Als Geheimnisträger der sowjetischen Armee ist Robert Pagenkopf für subalterne SED-Funktionäre und die Zumutungen des DDR-Alltags unerreichbar. Tatsächlich gewinnt er so ein Maximum an Freiheit, dem Lebenselixier, das es in Deutschland stets nur in den Lüften gibt. Er stürzt ab und wird zur Besiegelung seines selbstbestimmten Lebens ohne rote Fahnen, nach katholischem Ritual, beigesetzt. Nur 32 Jahre läßt Johnson ihn alt werden, von der Tragik eines Kleist umwölkt, dem auf Erden auch nicht zu helfen war.

 

Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000, 1.728 Seiten, 75 Mark


 
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