© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/00 24. November 2000

 
Mit dem Doppelpaß ins EU-Paradies
Ukraine: Die rumänische Staatsbürgerschaft wird immer attraktiver / Warnung vor "Rumänisierung"
Ivan Denes

Nachdem in den vergangenen Mo-
naten die rumänischen Behörden von einer großen Anzahl von Anträgen auf die rumänische Staatsangehörigkeit seitens der Bürger der Republik Moldawien überflutet wurden, zeichnet sich nun ein ähnlicher Trend auch in der Ukraine ab. Eine zunehmende Anzahl von ukrainischen Staatsbürgern hat in der letzten Zeit den Antrag gestellt, neben der ukrainischen Staatsangehörigkeit auch die rumänische zu erlangen. Die rumänische Gesetzgebung erlaubt die doppelte Staatsangehörigkeit, während dies in der Ukraine verboten ist.

Die Gründe, warum ein rumänischer Paß in der Ukraine plötzlich so begehrt ist, sind wohl wirtschaftlicher Natur. Für Kleinunternehmer, die Geschäfte in Rumänien machen wollen, bringt der Besitz eines rumänischen Passes zusätzliche Vorteile. Der Hauptgrund dürfte aber ein anderer sein: Rumänien hat bekanntlich im Dezember vergangenen Jahres die Verhandlungen für den EU-Beitritt aufgenommen. Auch wenn die schwachen wirtschaftlichen Leistungen des Landes bewirken, daß Rumänien zur Zeit den letzten Platz auf der Warteliste der Kandidaten einnimmt, ist jedoch anzunehmen, daß es früher oder später doch in die EU aufgenommen wird. Als Besitzer eines rumänischen Passes wird man dann selbstverständlich "Tür und Tor" für ganz Europa offen haben.

Dies ist auch der Hauptgrund, warum so viele moldawische Bürger seit 1999 die rumänische Staatsangehörigkeit beantragt haben. Gegenwärtig sind es ungefähr 300.000 Moldawier, die die rumänische Staatsangehörigkeit erhalten haben – darunter ungefähr die Hälfte der moldawischen Parlamentarier. Einige wenige Abgeordnete wurden dabei sogar von einem politischen Ideal getrieben, nämlich der eventuellen Wiedervereinigung mit Rumänien. Die heutige Republik Moldawien ist größtenteils auf dem Territorium der ehemaligen rumänischen Provinz Bessarabien errichtet worden, die 1940 von der Sowjetunion annektiert wurde.

Es ist genau diese politische Frage, die in bestimmten Kreisen in der Ukraine Besorgnis aufkommen läßt. Diese hegen nämlich den Verdacht, daß Rumänien, indem es ukrainischen Bürgern die Staatsangehörigkeit gewährt, eine getarnte Politik der "schleichenden Rumänisierung" verfolge, mit dem Zweck, die Nordbukowina (heute: Region Tschernowiz in der Ukraine) und den südlichen Teil Bessarabiens (heute Bestandteil der Region Odessa), die vor dem Zweiten Weltkrieg zu Rumänien gehört haben, zurückzugewinnen. Dabei wird auf die Existenz einiger Parteien und Politiker in Rumänien hingewiesen, die von der Wiederherstellung "Großrumäniens" träumen, zu der auch das heutige Moldawien und die betreffenden ukrainischen Territorien gehören würden.

Die rumänische Botschaft in Kiew hat erklärt, daß – laut Gesetz – die Staatsangehörigkeit "ehemaligen rumänischen Bürgern gewährt werden kann, die vor dem 22. Dezember 1989 aus verschiedenen Gründen ihrer Staatsangehörigkeit beraubt wurden (...), auch wenn diese gegenwärtig einen fremden Paß besitzen, und nicht beabsichtigen, einen ständigen Wohnsitz in Rumänien zu beziehen." Dieselben Regeln gelten auch für die Nachkommen der betreffenden "ehemaligen rumänischen Bürger".

Viele ukrainische Vertreter tun aber die Gefahr einer "schleichenden rumänischen Expansion" in der Ukraine mit dem Hinweis ab, daß die Verlegung von Staatsgrenzen in Europa nach der Helsinki-Erklärung von 1975 nicht mehr möglich sei. Andere meinen jedoch, daß die Erklärung von Helsinki die Möglichkeit nicht ausschließt, daß bestimmte Regionen innerhalb eines Landes Referenda zu der Frage abhalten, ob sie nicht lieber einem anderen Staat beitreten wollen. Sollte Rumänien eines Tages EU-Mitglied werden, so könnten die zahlreichen ukrainisch-rumänischen Bürger in der Tschernowitz-Region entscheiden, daß es viel vorteilhafter für sie wäre, Bestandteil des neuen EU-Staates zu sein.


 
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