© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/00 24. November 2000


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Tagebuch
Karl Heinzen

Helmut Kohl hat in seinen Tagebüchern an den wahren Lesebedürfnissen des Publikums vorbeigeschrieben. Gerade von jemandem, der im Bewußtsein der Menschen als Bösewicht verankert ist, wird erwartet, daß er den Mut aufbringt, sein Anderssein zu bekennen. Er kann sich ruhig ein wenig wichtiger nehmen, als es ihm eigentlich zustünde, und er darf sicherlich dort schweigen oder lügen, wo anderes aktuell für ihn unangenehme Folgen zeitigen könnte. Er sollte aber nicht meinen, die Öffentlichkeit langweilen zu dürfen, bloß weil sie schlecht über ihn denkt.

Genau diese Unart ist aber leider der rote Faden der literarischen Bemühungen von Helmut Kohl, eine Reflexion über das eigene Tun vorzutäuschen. Er will den Lesern weismachen, daß er so sei, wie er wünscht, daß sie von ihm denken. Schon der Versuch, schon die Unterstellung, daß man damit Erfolg haben könnte, bringt eine Menschenverachtung ans Tageslicht, die allerdings in den Unionsparteien Tradition hat und leider immer noch stilbildend ist.

Helmut Kohl hat sich mit seiner Absicht, die Wertschätzung der Menschen zurückgewinnen, aber per se zuviel vorgenommen. Die Wiedervereinigung ist zwar mit seinem Namen verbunden, kann ihm aber nicht zugerechnet werden. Die Erinnerung an seine Regierungspolitik ist schnell verblaßt. Nur im Ausland wird ihm noch, aus welchen mehr oder weniger hehren Motiven auch immer, Anerkennung gezollt. Dies ist zu wenig, um als eine Ausnahmepersönlichkeit anerkannt zu werden, die sich über Recht und Moral erheben dürfte. Das Unverständnis über den ihm entgegenschlagenden Haß ist daher kaum nachvollziehbar. Auch das Kopfschütteln über die eigene Partei ist unangebracht. Auf welche andere Gelegenheit hätten die unfreiwilligen Weggefährten von einst denn noch warten sollen, um endlich von ihm abzufallen?

Entschädigt wird der Leser vielleicht durch die verblüffende Einsicht, daß Helmut Kohl bis in die Details der Formulierungen hinein zu seinem Wort steht. Was er der Öffentlichkeit in Pressekonferenzen, Reden und Interviews mitteilte, vertraute er offenbar ungefiltert auch seinem Tagebuch an. Nun schließt sich der Kreis, und es stellt sich heraus, daß er, anders, als man es von seinem Nachfolger gewohnt ist, gar keine Hintergedanken verfolgte.

Helmut Kohl sieht sich als Opfer und macht alle, die sich gegen ihn verschworen haben sollen, dafür verantwortlich, daß seine Familie nun unter seinem Namen zu leiden habe. Diese Paranoia ist ein Hinweis darauf, daß die jahrelange illegale Praxis sein Rechtsempfinden nachhaltig beschädigt hat. Der bescheidene Aktionsradius, über den er heute verfügt, birgt allerdings kaum noch Gefahren, daß durch Helmut Kohl Staat und Gesellschaft weiterer Schaden zugefügt werden kann. Eines jedoch vermag ihm keiner mehr zu nehmen: Als seine Regierungszeit noch vor ihm lag, mochte ihm niemand etwas zutrauen. Im Rückblick legt niemand die Hand für ihn ins Feuer. Da ist ihm alles zuzutrauen.


 
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