© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/00 24. November 2000

 
Die Grenzen des Rechts
Die Union streitet um eine gemeinsame Linie in der Asylpolitik
Paul Rosen

Der kleine Parteitag der CDU am 20. November in Stuttgart unter dem Motto "Bildungsvorsprung für Deutschland" bot ein gespenstisches Bild: Hinter den Kulissen stritten die führenden Unions-Vertreter der im Niedergang begriffenen – einstmals konservativen – Volkspartei um die Frage, wie man es mit dem weltweit einmaligen "Grundrecht auf Asyl" halte. Doch in den Reden der Parteivorsitzenden Angela Merkel und des Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz war von dem Thema, das die Bundesbürger zentral bewegt, nichts zu hören.

Mit seltsamer Gelassenheit nimmt die Parteiführung hin, wie die Positionen der CDU und CSU in dieser Frage auseinanderdriften, weil die CDU nach links abtreibt, während die Bayern ihren Kurs halten. Auch Laurenz Meyer, der neue CDU-Generalsekretär, fand vergangenen Dienstag gegenüber der Stuttgarter Zeitung keine klaren Worte und blieb ausweichend: "Politisch Verfolgte müssen bei uns nach wie vor Asyl finden. Darin sind sich alle Beteiligten einig, sowohl in der CDU als auch in der CSU. Wenn wir die genannten Verbesserungen innerhalb des bestehenden Grundrechts erreichen können, sollten wir das anstreben. Ob das gelingen kann, soll unsere Zuwanderungskommission prüfen." Doch diese Kommission leitet der saarländische Ministerpräsident Peter Müller – und der wandte sich seit jeher strikt gegen eine Verfassungsänderung. Statt dessen sollten "einfache gesetzliche Vorschriften neu gefaßt" werden, um die Asylverfahren zu beschleunigen.

Der Wandel in Merkels Christenunion kam eher schleichend daher. Als die Partei in der Öffentlichkeit noch vehement um den Begriff der "deutschen Leitkultur" stritt, der in Wirklichkeit nur ein anderes Etikett für den von Gustav Heinemann entwickelten Verfassungspatriotismus ist, kam es zu einem folgenschweren Kompromiß: Merz bekam seine "Leitkultur in Deutschland" in den Vorstandsbeschluß geschrieben. Damit dieser Beschluß auch schön einstimmig ausfallen konnte, wurde dem Lager der "liberalen" Asylbefürworter ein Angebot gemacht: Der Asylpassage im Vorstandspapier wurde ein Leitsatz vorangestellt: "Wir treten für eine Harmonisierung des europäischen Asylrechts ein – bei Freizügigkeit innerhalb Europas und Sicherung seiner Außengrenzen macht eine nationale Asylpolitik zunehmend keinen Sinn mehr."

Damit war die Forderung nach Änderung des deutschen Asylartikels 16 im Grundgesetz an die zweite Stelle gerückt und die gemeinsame Linie der Unionsparteien von der CDU quasi durch die "Hintertür" verlassen worden.

Ganz anders die – bei Wahlen stets erfolgreichere – CSU. Bei ihrem zweitägigen Parteitag vergangenes Wocheende in München wurde eindeutig eine Änderung des Grundgesetzes verlangt: "Wir müssen das Grundrecht auf Asyl durch eine institutionelle Garantie ersetzen und die Asylverfahren beschleunigen". Erst danach nimmt die CSU Bezug auf Europa: "Wir brauchen ein einheitliches Asylrecht in Europa und vor allem eine gerechte Lastenverteilung innerhalb der EU."

Frau Merkel spielte in den folgenden Auseinandersetzungen mit der bayerischen Schwester keine ungeschickte Rolle: Sie verwies stets auf den auf Betreiben ihres Vorgängers Wolfgang Schäuble geänderten Vorstandsbeschluß, dessen genaue Auswirkungen einer breiten Öffentlichkeit verborgen geblieben sind. An den Stammtischen dürfte immer noch geglaubt werden, die CDU wolle die Abschaffung des Grundrechts Asyl und dessen Ersatz durch eine institutionelle Garantie.

Längst hat sich bei den Asylbefürwortern in der CDU die Auffassung durchgesetzt, daß Asyl und die Flut unberechtigter Asylbewerber kein Problem für das Land ist. Die Zahlen scheinen ihnen recht zu geben: 1992, im bisherigen Rekordjahr, hatten fast 438.000 Menschen Asyl in der Bundesrepublik Deutschland beantragt. Im letzten Jahr hingegen kamen "nur" 95.113 Asylbewerber, im ersten Halbjahr dieses Jahres waren es etwa 36.000. Dies ist ohne Zweifel ein Erfolg der Drittstaaten-Regelung, die mit dem All-Parteien-Asylkompromiß 1992 in die Verfassung aufgenommen wurde. Danach können Asylbewerber wieder zurückgeschickt werden, wenn sie aus sicheren Drittstaaten, zum Beispiel Österreich, einreisen.

Doch ob es bei den verhältnismäßig niedrigen Zahlen bleibt, ist ungewiß. Ein neuer internationaler Konflikt reicht aus, um die Flüchtlingswelle wieder auf Deutschland zu konzentrieren. Daher blieb die bayerische CSU auf ihrem Parteitag unbeirrt bei ihrer Forderung, das Grundgesetz zu ändern und das Asylrecht in eine institutionelle Garantie zu verwandeln, die den Antragstellern weniger prozessuale Rechte und dem Staat bessere und vor allem schnellere Entscheidungsmöglichkeiten gibt. Denn das Hauptproblem bei den heute über den Königsweg Asyl einreisenden Menschen ist, daß die meisten trotz Ablehnung ihres Antrages aus den verschiedensten Gründen im Lande bleiben. Dies gilt für 94 Prozent aller Fälle. Daher verlangt die CSU, die Zuwanderung von Menschen aus Nicht-EU-Staaten zu reduzieren, "die unsere Sozialhaushalte belasten und unsere Integrationskapazität überfordern".

Doch die Stunde der Wahrheit könnte für Frau Merkel schneller kommen als ihr lieb sein dürfte. Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein SPD-Generalsekretär Franz Müntefering haben längst gemerkt, was in der Union stattfindet. Sie wollen der CDU ein Angebot machen, das derzeit von der Zuwanderungskommission des Bundesinnenministeriums vorbereitet wird. Die Vorsitzende dieser Kommission – auch dies war ein geschickter Schachzug von Rot-Grün – ist die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, die ebenso wie SPD und Grüne für eine Beibehaltung des Artikels 16 plädiert und sich auf einmal – zur eigenen Überraschung – in der Mehrheitsfraktion der Merkel-CDU befindet. Schröder drängt längst auf einen Allparteien-Kompromiß, um die CDU ins Boot zu holen und die bayerische CSU ausgrenzen zu können.

Schon wies die ehemalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) die Richtung, als sie den CSU-Beschluß als "inhuman und unchristlich" geißelte. So kann Rot-Grün eine alte Taktik weiterbetreiben: die CSU wird in die "rechte Ecke" gestellt, Frau Merkel für die von ihr betriebene "Sozialdemokratisierung" der CDU mit Lob bedacht. Die Bürgerlichen merken dabei gar nicht, daß der clevere Schröder mit ihnen ein altes Spiel treibt, das unter römischen Politikern als divide et impera bekannt war: Teile und herrsche.


 
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