© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/00 17. November 2000

 
Der Feind im eigenen Land
von Claus-M. Wolfschlag

Seit August 2000 sind die Bürger der Bundesrepublik Deutschland Zeugen einer großangelegten Kampagne gegen "Rechts" geworden. Aufrufe, markige Politikerreden und Massendemonstrationen bestimmen seitdem wieder einmal das Bild der Öffentlichkeit.

Auslöser war ein Rohrbomben-Anschlag in einem Düsseldorfer S-Bahnhof am 27. Juli, bei dem sieben Sprachschüler aus der ehemaligen Sowjetunion, in der Mehrzahl jüdischen Glaubens, teils schwer verletzt wurden. Es ging kein Bekennerschreiben ein, ein Täter konnte nicht ausgemacht werden. Trotzdem wurde der Anschlag in den Medien sehr schnell "rechtsextremen" Terroristen unterstellt. Und er wurde in Zusammenhang mit einer angeblichen Serie von fremdenfeindlich motivierten Gewaltakten auf dem Gebiet der fünf östlichen Bundesländer gebracht. Die Kampagne bewirkte Aktivismus der verschiedensten Art – von etablierten Politikern und Institutionen initiierte Großdemonstrationen, zahlreiche Formen teils skurril anmutender Bekenntnissymbolik (Zahnärzte stellten ihre Behandlung, Friseure ihre Haarschnitte und Sportvereine ihre Trainingsstunden unter das Motto "gegen Rechts" und werteten damit ihre Alltagshandlungen rituell auf) bis zu staatlichen Bestrebungen, die NPD vom Bundesverfassungsgericht verbieten zu lassen.

Dabei spielen Differenzierungen, Unterschiede zwischen "Rechtsextremismus" "Rechtsradikalismus" oder einer gemäßigten "Rechten" in der emotional geführten Diskussion keine Rolle. Erklärungen sind müßig und werden auch immer weniger verstanden. Sie überfordern anscheinend den Geist der Bürger in einer Unterhaltungsgesellschaft, in der immer stärker nur noch in Schwarz-Weiß-Schemata gedacht wird. Der politische Kampf wird somit zunehmend pauschal "gegen Rechts" geführt. "Rechts"? Bürger und Medienmacher denken dabei nicht an eine weitreichende Geistestradition, an Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck, Ernst Jünger oder Juan Donoso Cortez. Nein das öffentliche Bild des "Rechten" ist heute allenfalls noch als Comic-Zeichnung prügelnder und schreiender Glatzköpfe präsent.

Wenn die Bürger an "die Rechten" denken, kommen ihnen nicht mehr die Bilder von aristokratischen Landadeligen, von preußischen Offizieren, von monarchistischen Honoratioren in ihren Studierzimmern, von kernigen Wanderburschen der "bündischen Jugend" in den Sinn – übrig ist allein das Bild grölender, saufender Schläger. "Der Rechte" wird somit zum Synonym für "der Menschenfeind", "der Gewalttäter" und zur Verkörperung "des Bösen".

Diese Betrachtung, wie die ganze Diskussion darüber, ist durch diese comicartige Verkürzung bedingt an Einseitigkeit nicht mehr zu überbieten. Geschieht eine geringfügige Sachbeschädigung an einer Synagoge oder einer KZ-Gedenkstätte, geht ein medialer "Aufschrei" durch das Land, wird Sachbeschädigung an einer Kirche begangen, ist das vielleicht eine sechszeilige Meldung in der Lokalpresse wert, an einem Kriegerdenkmal (eine oft geübte Praxis linksgerichteter Jugendbanden) nicht einmal das. Schlägt oder bedroht ein "Rechter" einen "Linken" oder ein Deutscher einen Ausländer, führt dies zu "empörten" Pressemitteilungen etablierter Politiker, werden Deutsche von Ausländern bestohlen, bedroht, verletzt oder gar getötet, ist das wieder nur ein Fall für den Regionalteil der Heimatzeitung. Die Gewalt von Ausländern an Deutschen sei schließlich nicht "fremdenfeindlich" motiviert, sondern es ginge nur ums Geld, so die Begründung. Als ob das Motiv des Täters für das blutende Opfer einen Unterschied machte, und als ob nicht sowohl Fremdenfeindlichkeit wie Raubüberfall im Grund um dasselbe gingen – sich Machtmittel in einem menschlichen Daseinskampf zu sichern (Territorium und politischen Einfluß auf der einen, Finanzressourcen auf der anderen Seite).

In der Presse gänzlich unterschlagen wird die Gewalt linksgerichteter, "antifaschistischer" Gruppen gegen rechtsgerichtete Menschen: Brandanschläge und Körperverletzungen sind hier durchaus an der Tagesordnung. Beispielsweise fanden 1998 nach Angaben des Bundeskriminalamtes 261 Gewaltakte von sogenannten Linksextremisten gegen rechtsgerichtete Menschen statt, darunter 3 versuchte Tötungsdelikte, 141 Körperverletzungen, 15 Brandstiftungen und 85 Landfriedensbrüche. Für die Medien-Berichterstattung in der Regel überhaupt kein Thema. Nein, es muß in einer zunehmend weniger differenzierenden, Unterhaltungsgesellschaft feststehen, wer "böse" und wer "gut" ist. "Böse" ist der "Rechte", dem jede Schandtat nachzusagen ist, "gut" sind die (armen, ausgenutzten und mißachteten) "Ausländer", die "Mitte" und auch die "Linke". Wie aber soll eine Demokratie funktionieren, wie soll eine "Mitte" entstehen, wenn es zwar eine "Linke", aber keine "Rechte" geben darf?

Das Bild des Kampfes der lichten "Antifaschisten" gegen das dunkle Böse des "Rechtsextremismus" ist natürlich ein mythologisches Motiv und Propagandaschema für eine im Grunde politisch eher desinteressierte Bevölkerung. Jede Kampagne hat aber ihren Hintergrund, und dieser ist auch hinter den Kulissen der "Anti-Rechts"-Demos erkennbar. Hinter "antifaschistischen" Kampagnen gegen sogenannten Rechtsextremismus versteckt sich immer ein weitergehendes Ziel. Das "braune Monster" wird von linksgerichteten Politikern und Publizisten nur zu gerne herangezogen, um über die Lähmung rechtsgerichteter politischer Gegner und die Fixierung der Bevölkerung auf den "rechten Feind" weitergehende gesellschaftspolitische Pläne zu realisieren. Seit der Regierungsübernahme durch Gerhard Schröder wird das Projekt "multikulturelle Gesellschaft", also im Grunde die schrittweise Marginalisierung einer sich als "deutsch" verstehenden Bevölkerungsmehrheit in Deutschland, offen propagiert.

Nicht zufällig ist das Zusammenfallen der "Anti-Rechts"-Kampagne mit der gleichzeitigen Debatte um Zuwanderung und "Green Cards". Ein neuer Einwanderungsschub nach Deutschland wird aus diversen politischen wie wirtschaftlichen Gründen vorbereitet. Bei derartig weitreichenden Unternehmungen stört Kritik natürlich immer. Das einfachste Mittel gegen sie ist, potentielle Kritiker in die argumentative Defensive zu bringen. Wer sich für seine Meinung rechtfertigen muß, beteuern muß, kein "schlechter Mensch" zu sein, ist zu einer offensiven Kritik nicht mehr in der Lage. Und deshalb richtet sich die gegenwärtige Kampagne ja auch in Wirklichkeit nicht gegen Gewalt- und Straftäter, da man sonst auch die verschiedensten Formen von Gewalt in dieser Gesellschaft thematisieren müßte.

Nur zur Verdeutlichung: 1999 wurden insgesamt 388.406 Körperverletzungsdelikte registriert, darunter 299 mit Todesfolge. In der ersten Jahreshälfte 2000 dagegen registrierte das Bundeskriminalamt insgesamt nur 330 Fälle sogenannter rechtsextremistischer Gewalt. Die Zahl solcher Gewalttaten ging gegenüber dem Vorjahr zurück und hatte in etwa dieselbe quantitative Stärke wie die Gewalttaten linksgerichteter Täter. Erst im Gefolge der Medien-Kampagne seit August 2000 erhöhte sich die Zahl "rechtsextremistisch" motivierter Übergriffe etwa durch Nachahmungstäter. Ein direkter Zusammenhang zwischen der NPD und derartigen rechtsgerichteten Straftaten konnte übrigens nicht ausgemacht werden. Zwar sind 330 "rechtsextremistische" Straftaten auf jeden Fall 330 zuviel und gehören regulär strafrechtlich verfolgt, sind aber angesichts der gesamtgesellschaftlichen Gewalt nur eine minimale Größe.

Es geht also nicht um Gewalt. Vielmehr soll via Emotionalisierung der Bevölkerung eine bestimmte politische Meinung unter Straftatsverdacht gestellt werden. "Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen", lautet eine Parole, die Gewerkschaftsmitglieder unlängst von "Autonomen" der frühen neunziger Jahre abgeschaut hatten. Und was "Faschismus" ist und wer dadurch demnächst ein "Verbrechen" begeht und in den Knast gehört, bestimmen fortan die selbsternannten "Anständigen".

Anders ausgedrückt: Krieg gegen einen äußeren Feind wurde schon oft von Regierungen benutzt, um von Fehlern der eigenen Politik ablenken zu können. Da es der Bundesrepublik angesichts der außenpolitischen Situation und pazifistischen Rhetorik derzeit nicht möglich ist, Krieg gegen äußere "Feindmächte" zu führen, wird der Krieg gegen einen inneren "Feind" aufgenommen. Auch dies eine deutsche Tradition. Man kann sich als Streiter für das Gute und die Interessen des Volkes darstellen und sich, nachdem man beispielsweise einem unwichtigen Grüppchen von 6.000 NPD-Mitgliedern "entschlossen" in den Allerwertesten getreten hat, noch ohne Risiko in strahlender Siegerpose präsentieren. Der "Sündenbock" ist in jedem System bestens dafür geeignet, von eigener Unfähigkeit abzulenken und politische Herrschaft zu sichern. In der Bundesrepublik heißt dieser Sündenbock in der Regel "Rechtsextremist".

Eine politische Auseinandersetzung unserer Zeit verläuft zwischen Anhängern einer Auflösung jeglicher Bindungen an eine nationale Identität auf der einen und den Bewahrern nationaler Identität auf der anderen Seite. Die einen propagieren die schrittweise Umwandlung des Kulturmenschen zum rein biologischen "Menschen-so-wie-alle-anderen-auch", der nur von seiner biologischen Konstitution als "Mensch" und seinem Konsumverhalten bestimmt sei, die anderen sperren sich dagegen. Maßgebliche journalistische Mitinitiatoren der "Anti-Rechts"-Kampagne, wie Burkhard Schröder (geb. 1952), propagieren offen die gesellschaftliche Machtübernahme durch Immigranten. In seinem neuesten Buch "Nazis sind Pop" (Berlin 2000, Espresso-Verlag) empfiehlt Schröder der "Antifa" die "subversiven Mittel der Migranten" zur "Modernisierung" und "Internationalisierung" des Landes.

Unter dem "Rechtsextremisten" wird folgerichtig heute zunehmend einfach derjenige verstanden, der sich gegen weiteren Ausländerzuzug, gegen die Dominanz des Ökonomischen und für ein Deutschland unter eindeutiger Dominanz einer deutschen Mehrheitskultur ausspricht. Oder derjenige, der kulturelle und soziale Konflikte mit Ausländern in seinem Alltag austrägt und deren Ethnizität thematisiert. Der universell feststellbare Konflikt zwischen verschiedenen Ethnien wird also mit der politischen Verortung als "rechts" vermengt. Auch wenn dieser "Ausländerfeind" oftmals gar nicht "rechts" wählt, sondern vielleicht SPD oder PDS, oder niemals Spengler gelesen hat, wird er im Medienapparat zunehmend abwertend als "Rechtsextremist" gekennzeichnet.

Die heutige Kampagne ist eine fast getreue Kopie der "Lichterketten"-Bewegung von 1992/93, als Hunderttausende in der Weihnachtszeit mit Kerzen auf die Straße gingen, um gegen "Rechtsextremismus" und "Ausländerfeindlichkeit" zu demonstrieren. "Wer schweigt, scheint zuzustimmen", verlautbarte damals Fernseh-Moderator Alfred Biolek. Heute erklärt selbst der Bundeskanzler, daß es "nicht mehr erlaubt" sei, "wegzusehen". Er fordert zum "Aufstand der Anständigen" auf. Aber wenn ein Regierungschef zu einem "Aufstand" auffordert, kann etwas nicht stimmen. Normalerweise richten sich Aufständische gegen eine Regierung. Wenn aber die Herrschenden zu einem Aufstand gegen irgendwelche unbedeutenden Randgruppen aufrufen, sollte eigentlich Vorsicht geboten sein.

Die Elemente der heutigen Kampagne sind dieselben wie zu "Lichterketten"-Zeiten. Zuerst braucht es ein Opfer "ausländerfeindlicher" Gewalt, das jederzeit zu finden sein dürfte. Dieses Opfer dient als Initialzündung der folgenden Kampagne. Das Thema wird nun in den Medien multipliziert. Eine schuldige Gruppe wird ausfindig gemacht – "die rechtsextremen Gewalttäter", Wesen bar jeder Humanität, eigentlich schon keine Menschen mehr, eine "Gefahr", die sich auf die schutzlosen Bürger zubewege, um diese unter einer Welle von Gewalt und Terror zu begraben. Die mediale Vermittlung funktioniert, da die meisten Bürger den sogenannten "Rechtsextremisten" bislang nur im Fernsehen gesehen haben, noch nie ein eigenes Gespräch mit einem derartigen "Monster" geführt haben. Über verständliche Mitleidsgefühle gegenüber den (ausländischen) Opfern und Angsterzeugung gegenüber den "Rechtsextremisten" werden – neben ohnehin bereitstehenden "antifaschistischen" Aktivisten der verschiedenen linksgerichteten Organisationen – moralisch betroffene Normalbürger motiviert. Schließlich versuchen Spitzenpolitiker sich entweder an den Protest anzuhängen, um sich zu profilieren, oder diesen zu kanalisieren. Der "Antifaschismus", früher Betätigungsfeld einiger radikal-linker Randgruppen, ist folglich seit Anfang der neunziger Jahre zur Staatsdoktrin geworden. Schließlich kommt der heikelste Punkt der Kampagne. Sogenannte "Vordenker", die "geistigen Brandstifter", werden von interessierten linksgerichteten Publizisten und Politikern für die realen Straftaten verantwortlich gemacht. Der "Vordenker"-Vorwurf kann sich gegen jeden unbequemen Geist (Martin Walser, Ernst Nolte) richten, seine Karriere zerstören, ihn zum angstvollen Schweigen bringen, so daß er mundtot wird. Die Bewegung endet schließlich vorerst, wenn sie ihr Bauernopfer gefunden hat. Waren dies nach der "Lichterketten"-Bewegung einige neonationalsozialistische Kleingruppen, so ist es nun die NPD, eine seit fast 40 Jahren bestehende Partei, die nie ernsthaft das politische System auch nur ansatzweise gefährden konnte. Übrig bleibt die quälende Ungewißheit, ob das Bauernopfer das Ergebnis der Kampagne war oder die Kampagne nur als Legitimierung des Bauernopfers initiiert worden war. In folgenden Kampagnen könnten die Bauernopfer DVU oder Republikaner heißen.

Dennoch existieren heute auch Unterschiede zur "Lichterketten"-Bewegung. Waren damals noch die Blutopferopfer real verortbar – durch die auf den Bildschirmen in jedes Wohnzimmer flimmernden schockierenden Bilder der Kinder aus den Asylantenheimen, die durch die Brandbomben verletzt oder getötet wurden –, so wurde die jetzige Kampagne ohne hinreichenden Anlaß aufgenommen. Das Blutopfer, die Verletzten des Düsseldorfer Anschlags, konnte keinesfalls rechtsgerichteten Tätern zugeschrieben werden, sondern wurde nur als Aufhänger vorgeschoben. Man konnte also bei dieser zweiten bundesdeutschen Großkampagne gegen den "rechten Feind" erkennen, daß konkrete Anlässe anscheinend zur Mobilisierung der Massen überhaupt nicht mehr notwendig sind. Die Konditionierung auf "rechts = Gefahr" und "Ausländerzuzug = gut" ist bereits so tief in die seelischen Schichten weiter Bevölkerungsteile eingebrannt, daß man nur noch wahllos unzusammenhängende Schlüsselbegriffe über die Medien zu verbreiten braucht (Was bitte hat "Auschwitz 1945" wirklich mit dem NPD-Verbot von 2000 zu tun, wie es immer legitimierend behauptet wird?), und die Massen setzen sich roboterhaft mit Spruchbändern "gegen Rechts" in Bewegung. Und wer "wegschaut" (also nicht mitmarschiert) oder gar etwas dagegen sagt, auf den beginnt die Masse mit dem Finger zu zeigen und laute Schreie der Empörung auszustoßen.

Die Kampagne hat enorme finanzielle Unterstützung von Regierung und Wirtschaft und stößt kaum noch auf nennenswerten Widerstand in Medien oder unter skeptischen Politikern. Bei letzteren überwiegt der Wille, sich durch bequemes Mitschwimmen im Strom zu profilieren und auf keinen Fall durch unpopuläre Äußerungen die Finger zu verbrennen. Bei den Medienvertretern besteht heute weitenteils Denkfaulheit. Ihnen fehlt die nötige Sensibilität für die Erkenntnis, in welcher Weise mittels "antifaschistischer" Kampagnen zunehmend Bürgerrechte ausgehöhlt werden.

Hier rächt sich auch die nur mangelhafte öffentliche Beschäftigung mit der Praxis des DDR-Herrschaftssystems, das sehr oft nur als Staat der klapprigen Trabbis, braun gemusterten Tapeten und obskuren Ost-Produkte verniedlicht wurde. Schon einmal in der deutschen Geschichte wurde schließlich der "Antifaschismus" gegen "Rechts" als Legitimationsgrundlage eines unterdrückerischen politischen Systems herangezogen. Nicht von ungefähr ist die PDS durch ständige Präsenz auf den gegenwärtigen Demonstrationen und Veranstaltungen bemüht, sich als akzeptierter Machtfaktor und Bündnispartner zu etablieren.

Zur Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft und als Anerkennung für die Mitläufer gibt es zwar keine Orden mehr, dafür aber verbale Belohnungshäppchen. Wer möchte sich nicht in einer gänzlich unheroischen Gesellschaft einmal als Held erkennen, als einer, der seinem Alltag als Zahnrad der Arbeits- und Vermarktungswelt wenigstens für einige Stunden entfliehen und sich mit etwas Glück gar nachträglich im Fernsehen bewundern kann? Wer möchte sich nicht einmal wie Rosa Luxemburg, Georg Elser und Heinrich Böll in einem fühlen? So kommt es zu irrwitzigen Situationen. Weil in irgendeinem entlegenen Stadtviertel 200 trommelnde Glatzköpfe gegen die in ihren Augen lügende Presse demonstrieren, versammeln sich 30.000 "entschlossene" Gegendemonstranten, um sich gegenseitig ihren Mut und ihre "Zivilcourage" zu bestätigen. Merkwürdig, von "Zivilcourage" zu sprechen, wenn alle politisch Mächtigen, die Stadtoberen, sämtliche Kirchen und relevanten Parteien, die Gewerkschaften wie die Arbeitgebervertreter mitmarschieren und einem anerkennungsvoll auf die Schulter klopfen, wenn auf jeden Gegner etwa 1.000 Gesinnungsfreunde kommen. Ist "Zivilcourage" im bundesdeutschen Neusprech möglichenfalls ein anderes Wort für das, was man früher "Mitläufertum" nannte? Und die 200 einsamen, hilflos Parolen skandierenden "Rechtsextremisten"? Man muß sie nicht mögen, ihre Methoden oder ihre Absichten nicht gutheißen, aber eines kann man ihnen nicht absprechen: Echte "Zivilcourage" im alten Sinne des Wortes gehört schon dazu, in derartigen Zeiten, angesichts der tausendfachen Anzahl von Gegendemonstranten, mit einem kleinen Häufchen offen bekennend auf die Straße zu gehen.

Nur "Zivilcourage"? Oder ist es möglichenfalls auch der Mut von Verzweifelten? Ohne das Auftreten dieser Personen und ihre oft abstoßenden Parolen gutzuheißen – aber haben diese Menschen denn noch etwas zu verlieren? Ohne Zugang zu einem weitgehend verriegelten Medienapparat, ohne parlamentarische Vertretung, ohne politische Mitspracherechte sollen ihnen nun auch noch die demokratischen Grundrechte, zum Beispiel das scheinbar "unerträgliche" Recht, eigene Demonstrationen durchzuführen, genommen werden.

Nein, die Risiken für die politische Kultur und die Bürgerrechte durch den repressiven Staat sind offenkundig. Es besteht die Gefahr, daß sich die Bundesrepublik schleichend zu einer kapitalistischen DDR wandelt – ohne daß es die Bürger zu bemerken scheinen. Nun, solange das Brot gebacken wird, das Bier fließt und die Spiele des Volkes auf dem Jahrmarkt, der Arena oder im Fernsehen feilgeboten werden, haben sich schon seit jeher die meisten aus der Bevölkerung nicht für das politische Geschehen interessiert, das nunmal immer von wenigen geleitet wurde. Ein Fehler, der sich dereinst rächen könnte.

Keiner sollte überrascht sein. Die Mechanismen des hier erkennbar werdenden "Neo-Antifaschismus" sind seit Jahren ersichtlich. Selbst diejenigen, welche heute jammern und die Verschärfung des politischen Meinungsklimas wahrnehmen, hatten seit der "Lichterketten"-Ära 1992/93 etwa acht Jahre Zeit, sich Gedanken zu machen und die Situation richtig einzuordnen. Statt dessen war nur Weitergewurstel angesagt. Das betrifft insbesondere das sogenannte konservative Spektrum: Eine neue Partei hier, ein neues Luftschloß dort, eine markige Rede am Stammtisch, 800 verklebte Plakate mit einer irrsinnig zündenden Parole, die ebenso vielbeschworene wie utopische "Einheit der Rechten", die Hoffnung, ein warmes Plätzchen am Katzentisch der Union erlangen zu können, der Glaube, daß alles schon nicht so schlimm kommen werde, die Rettung durch ein neues Projekt nur kurz bevorstünde und so weiter und so fort. Aber bloß keine tiefgehende Auseinandersetzung mit der politischen Realität, mit den erkennbaren Machtverhältnissen, der gesellschaftlichen Entwicklung, den Theorien und Strategien der politischen Gegner, mit den eigenen, im Grunde nur minimalen Möglichkeiten, Einfluß auf die alle gewachsenen Strukturen umwälzende Raserei des Kapitalismus zu nehmen.

Vielleicht hat die Menschheit wirklich nichts aus der Geschichte gelernt. Heute richtet sich die Repression wieder einmal gegen das "Böse", das aus der Gesellschaft ausgeschieden werden muß. In einer "multikulturellen Gesellschaft", in der der Fremde positiv besetzt wird, also nicht als Sündenbock herhalten kann, kann sich die Repression nur gegen den Einheimischen wenden, der sich ängstlich Gedanken um die Erhaltung seiner Heimat macht.

 

Claus M. Wolfschlag hat Geschichte, Kunstgeschichte und Politik in Frankfurt am Main studiert und ist publizistisch tätig. 1998 hat er das Buch "Bye, bye ’68 … Renegaten der Linken, APO-Abweichler und allerlei Querdenker berichten" herausgegeben.


 
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