© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/00 17. November 2000

 
CD: Industrial
Magische Riten
Ulli Baumgarten

Daß die Musik der "Schwarzen Szene" (Gothic, Mittelalter, Neue Deutsche Volksmusik, Industrial, Death- und Black-Metal usw.) nicht gerade für Frohsinn und Lebensfreude steht, dürfte jedem Hörer dieser Stilrichtung bekannt sein, aber hin und wieder lernt man eine Gruppe kennen, die dann alles bisher bekannte noch zu übertreffen vermag. So verhält es sich mit der italienischen Formation Canaan. Ihre CD "Brand new Babylon" liefert so ziemlich die dunkelste und schwermütigste Musik, die seit langer Zeit zu hören war. Canaans Musik – die Texte werden in Englisch und Italienisch gesungen, sofern es sich nicht um reine Instrumentaltitel handelt – könnte man als eine Mischung aus The Cure und Endura beschreiben, d.h. gitarrenbetonte, melancholische Lieder à la Cure wechseln mit Klangstrukturen à la Endura. Wer sich hierbei an Untermalungen zu Alpträumen oder rituellen Beschwörungen erinnert fühlt, an Vertonungen zu den Horrorgeschichten von H. P. Lovecraft, dürfte nicht ganz falsch liegen.

Durch diesen Stilbruch – wirklich schöne Melodien wechseln mit alptraumhaften Sequenzen – erscheint die CD beim ersten Hören uneinheitlich, so als ob die Gruppe selbst nicht wüßte, welchen Weg sie einschlagen will; läßt man sich auf diese Musik ein, dann entwickelt sie eine geradezu magische Anziehungskraft. In einer Zeit, in der dem Publikum größtenteils der Sinn nach Fast-Food-Musik steht und die Primitivität fröhliche Urständ feiert, wirkt das Schaffen von Gruppen wie Canaan geradezu antiquiert, aber Können und Qualität sind halt nicht altmodisch, sondern ewig. Insofern läßt sich von den Italienern sagen, daß ihre Musik die besten europäischen Kulturtraditionen weiterführt; zu wünschen wäre, daß diese wundervolle CD weite Verbreitung findet und der Hörer sich nicht von ihrer Schwermut und Komplexität abschrecken läßt (Prophecy Productions, Kurfürstenstraße 5, 54492 ZeltingenRachtig).

Öfter mal was neues: Scivias – ungarische Monarchisten, so weiß die Plattenfirma mitzuteilen – beglücken den Liebhaber des Besonderen und Absonderlichen mit einer wirklich gelungenen CD. "... and you will fear death not" heißt das edel verpackte Stück. Beim ersten Lied glaubt man zwar zuerst, daß Guido Westerwelle unter Einfluß von LSD zärtliche Gesangsversuche unternimmt, liest dann aber im Beiheft, daß es sich hierbei um einen ungarischen Countertenor handelt. Und in dieser unkonventionellen Art geht es weiter; schon die Thematik der CD – eine Glorifizierung der traditionalen Kultur Japans – läßt besorgte Gutmenschen erschauern: Sind die Japaner denn nicht ganz fiese Militaristen gewesen, bevor sie das Glück hatten, von den Amerikanern mit den Errungenschaften westlicher Zivilisation gesegnet zu werden? Scivias werden das wohl etwas anders sehen, messen sie doch gerade dem alten Japan einen Wert zu und sehen das heutige auf dem Weg in die Dekadenz. Dem komplexen Thema werden die Lieder mehr als gerecht, leise, ruhige Melodien wechseln mit harschen, aggressiven Teilen ab, setzen die Leere, die in Teilen der japanischen Philosophie eine Rolle spielt, ebenso in Musik um wie die nukleare Vernichtung Hiroshimas und Nagasakis.

Die ganze CD wird in ungarischer Sprache gesungen, was den Reiz des Exotischen noch erhöht– die Plattenfirma nimmt nur Gruppen unter Vertrag, die in ihrer jeweiligen Muttersprache singen. Und genau hier dürfte das Problem liegen, denn das Exotische an dieser CD verstellt den Blick darauf, daß Scivias über eine wirklich beeindruckende musikalische Kapazität verfügen, man höre sich als Anspieltip nur die beiden wunderschönen Lieder "The peach boy" und "The empire in me" an. Unter all den Kieselsteinen, mit denen man Tag für Tag bombardiert wird, ist diese Scheibe eine wahre Perle! (Eis & Licht, Postfach 160142, 01307 Dresden).


 
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