© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/00 17. November 2000

 
Madonna der Mobilmachung
Vor hundert Jahren wurde die kommunistische Schriftstellerin Anna Seghers geboren
Doris Neujahr

Das Bild der Schriftstellerin Anna Seghers in der Bundesrepublik wurde lange bestimmt durch den 1957 aus der DDR geflüchteten Literaturwissenschaftler Alfred Kantorowicz. In seinem vielzitierten "Deutschen Tagebuch" (1959/61) hatte Kantorowicz mehrfach seine "persönliche Abneigung gegen die herzenskalte Seghers" bekundet und sie auf eine stalinistische Literaturfunktionärin reduziert. Dieses persönliche Verdikt korrespondierte mit dem literaturkritischen Negativ-Urteil Marcel Reich-Ranickis, der 1959 die Zerstörung des künstlerischen Talents durch das ideologische Dogma an ihr exemplarisch nachzuweisen versuchte.

In der DDR wurde sie als Repräsentantin und Symbolfigur ausgerufen und von der Bevölkerung auch akzeptiert. Ihre etwas entrückte, madonnenhafte Erscheinung schien einen humanen und emotionalen Mehrwert des Staates zu verbürgen. Eine Akte im SED-Archiv mit ihren detaillierten Krankenberichte belegt, wie stark die SED-Führung sie vereinnahmte und dazu in ihre Privatsphäre eindrang. Die Berichte landeten umgehend auf dem Schreibtisch des Chefideologen Kurt Hager, der sie an Erich Honecker weiterreichte. So war die Schriftstellerin Anfang Juli 1977 mit einer Lungenentzündung ins Regierungskrankenhaus eingeliefert worden. Zwei Wochen später brach sie sich hier den Oberschenkel. Mehrere Operationen wurden vorgenommen. Am 5. Dezember erfuhr die SED-Führung, daß eine wesentliche Besserung nicht mehr zu erzielen sei. Am 1. Februar 1978 wurde ein allgemeiner körperlicher und geistiger Abbau konstatiert, der auf eine Arteriosklerose zurückging.

Nichtsdestotrotz versuchte die SED-Führung bis zum Schluß, aus dem Ansehen der hinfälligen Achtzigjärigen politisches Kapital zu schlagen. Am 5. Dezember 1980 richtete Hager einen Brief an Honecker: "Ich bin dafür, daß der PEN der DDR durch den Generalsekretär (...) dem Nobelkomitee Anna Seghers zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur vorschlägt." Honecker zeichnete diesen Vorschlag mit einem "Einverstanden" ab. Die Bemühungen blieben erfolglos. Anna Seghers starb am 1. Juni 1983.

Im Herbst 1989 trat Walter Janka, der ehemalige Chef des Aufbau-Verlages, in dem auch Seghers’ Bücher erschienen, in einer wohlinszenierten Veranstaltung im Deutschen Theater in Ost-Berlin mit der Nachricht an die Öffentlichkeit, Seghers habe ihn während des Ungarn-Aufstandes 1956 nach Budapest schicken wollen, um den Philosophen Georg Lukácz, den sie bedroht glaubte, in die DDR zu holen. Als ihm diese Pläne bei einem Schauprozeß 1957 zum Vorwurf gemacht wurden – inzwischen galt Lukácz als Konterrevolutionär –, habe Seghers feige geschwiegen. Der Einwand von Experten, ihr Eingreifen hätte am Lauf der Dinge gar nichts geändert, verfing nicht. Die Enthüllung dieses "Verrats" lenkte die emotionalen Energien, die sich bis dahin auf sie konzentriert hatten, auf den unbekannten Walter Janka, der buchstäblich über Nacht zur Lichtgestalt eines erneuerten DDR-Sozialismus aufstieg. Das war wohl auch der Sinn dieser Übung. Vielleicht werden die entsprechenden Strategiepapiere der SED- und Stasi-internen Reformer, die die alte SED-Führung stürzen, den Staat aber erhalten wollten, eines Tages gefunden. Erst dann kann das Kapitel "Seghers und die DDR" abschließend beurteilt werden.

Die Diskussion von 1989/90 hatte aber auch positive Folgen, weil sie die Beschäftigung mit Seghers von eingefahrenen politischen Vorgaben befreite. Ihre Biographie und ihr Werk sind reichhaltiger und komplexer, als man bisher angenommen hatte.

Die Titel ihrer beiden letzten – künstlerisch unerheblichen – Romane, "Die Entscheidung" (1959) und "Das Vertrauen" (1968), stecken das Spannungsfeld ab, in dem sich ihre geistige und künstlerische Entwicklung vollzog. Anna Seghers wurde am 19. November 1900 in Mainz als Netty Reiling geboren. Ihre Eltern gehörten dem assimilierten, großbürgerlichen Judentum an. Oft hat sie berichtet, daß sie die Atmosphäre ihres Elternhauses als beengend empfand und sich für die revolutionären Ereignisse in Rußland und Europa interessierte. Die Zerstörung der Väterwelt eröffnete neue intellektuelle, politische und ästhetische Möglichkeitshorizonte. Auch Seghers empfand den herrschenden Ausnahmezustand der normativen Leere, der Tabula rasa, der nach "Entscheidungen" rief. Sie trat aus der Jüdischen Gemeinde aus, schloß sich der politischen Linken an und negierte auch sonst die Erwartungen, die sich an eine "höhere Tochter" knüpften, als sie eine unstandesgemäße Ehe einging und das Risiko einer freien Schriftstellerexistenz im Berlin der zwanziger Jahre einging. Den Abschied von der Elternwelt besiegelte sie mit einem neuen Namen.

Ihre Hauptfiguren, auch die der späteren Werke, sind selten vorbildliche Kommunisten, sondern charismatische Außenseiter, in denen sich die Züge des Schmittschen Partisanen, des Dostojewskischen Gottsuchers und des politisch-sozialen Selbsthelfers und Rebellen á la Max Hoelz mischen. Die Hauptfigur aus dem "Siebten Kreuz" (1942), Georg Heisler, gehört nominell zwar der KPD an, ist aber ein eigenwilliger Mann von hervorstechender Schönheit mit asozialen Zügen, der Frau und Kind im Stich gelassen hat, um ungebunden zu bleiben.

Diese Ungebundenheit war für Seghers nur im Zusammenspiel mit einer Haltung erträglich, die sie mit dem Begriff "Vertrauen" umschrieb. Vertrauen heißt, sich dem Begegnenden, dem Neuen, zunächst zu öffnen, aber auch, sich führen zu lassen. Sie trat 1928 in die KPD ein. "Ich fühlte mich mitten unter den Leuten allein. Wie ich die Partei brauchte in solch einem Augenblick", heißt es in einem autobiographischen Text. Die Bindung, die sie einging, verpflichtete sie, Stalin in Zeitungsartikeln mit biblischen Attributen zu versehen, ihn "den Mittelpunkt der Familie, ihren Ernährer", zu nennen und im Nachruf zu verkünden: "Millionen Menschen hatten den verloren, auf den sie das größte Vertrauen setzten." Diese Aufsätze wurden nicht in die "Gesammelten Werke" aufgenommen.

Die meisten ihrer Romane, Erzählungen und Aufsätze lassen sich nicht so eindeutig auf einen ideologischen Nenner reduzieren. Die kommunistische Ideologie wirkt mit anderen weltanschaulichen Elementen zusammen oder liegt mit ihnen im Widerstreit. Der Streik in der frühen Erfolgsnovelle "Aufstand der Fischer von Sankt Barbara" (1928) enthält mythische Dimensionen, er trägt mütterliche Eigenschaften und stößt zugleich, im Sinne der Existenzphilosophie, die Streikenden auf ihr Da-Sein. Lenin wird mit den Rittern der Apokalypse identifiziert, und der "Originaleindruck einer besseren Welt", den Seghers 1930 in der Sowjetunion empfangen haben wollte, ist von der Struktur der Epiphanie bestimmt. Zeitgleich zu Ortegas "Aufstand der Massen" (1930) und früher als Elias Canetti hat sie in der Erzählung "Auf dem Weg zur amerikanischen Botschaft" (1929/30) das Massenerlebnis von innen her gestaltet.

1930 reiste Seghers zu einem internationalen Schriftstellerkongreß in die Sowjetunion. Sie lernte industrielle Großbaustellen kennen und nahm an einem der "Industrieprozesse" teil, die gegen angebliche Saboteure geführt wurden und einen Vorgeschmack auf den späteren Massenterror gaben. Die kurzen Reportagen, die sie darüber schrieb, zeigen ihre Blindheit gegenüber der tatsächlichen Lage im Land. Spürbar ist aber auch die Begeisterung für eine Utopie der elementaren technischen Revolution, wie sie ebenfalls aus Jüngers "Arbeiter" (1930) spricht. Sogar das gnadenlosen Stakkato der Richter wird zum Ausdruck einer allgegenwärtigen Kraft und Dynamik. Noch in der DDR wird sie sich auf Ernst Jünger beziehen und eine Großdemonstration der FDJ als die "totale Mobilmachung für den Frieden" feiern.

1933 emigrierte Seghers. Im französischen Exil verfaßte sie "Das siebte Kreuz". Dieser Roman über sieben geflohene KZ-Häftlinge, von denen sechs gefangen und an Kreuze gebunden werden, während einer, Georg Heisler, entkommt, hat sie, auch durch die Hollywood-Verfilmung, weltberühmt gemacht. Viel ist über die psychologisch feine Darstellung der Anpassungsmechanismen in der Diktatur geschrieben worden, doch drängt sich auch der Eindruck auf, daß Seghers sich in Wahrheit scheute, die Folgen der "Mobilmachung" wahrzunehmen. Die im Schlußsatz ausgedrückte Überzeugung, das "Innerste" des Menschen sei "unverletzbar", und das Hohelied auf die Rheinlandschaft als unerschütterliches Gegengewicht zur Diktatur hatte etwa Arthur Koestlers Roman "Sonnenfinsternis" (1940) widerlegt. Die Parabel auf die "Moskauer Prozesse" hatte gezeigt, daß eine moderne Diktatur imstande war, sogar die Realität abzuschaffen.

Seghers’ Mutter wurde 1942 deportiert. Das Datum und die genauen Umstände ihres Todes blieben ungeklärt. Im "Ausflug der toten Mädchen" (1944) hat sie ihr ein ergreifendes Denkmal gesetzt. In dieser Erzählung, einer der größten der deutschen Literatur, sind Mainzer Jugenderinnerungen und die Erfahrungen ihres Exils in Mexiko, wo sie sich seit 1941 befand, zu einem Text von fast unerträglicher Intensität verschränkt, die sich in der Schlußszene nochmals steigert: Das Treppengeländer im Mainzer Elternhaus "drehte und wölbte (sich) zu einem mächtigen, pfähleartigen Zaun aus Orgelkakteen". Im Obergeschoß wartet die Mutter, doch "die Treppe, vor Dunst unübersehbar, erschien mir unerreichbar hoch, unbezwingbar steil, als steige sie eine Bergwand hinauf. ... Die Stufen waren verschwommen von Dunst, das Treppenhaus weitete sich überall in einer unbezwingbaren Tiefe wie ein Abgrund." Es ist der Abgrund des Jahrhundertschreckens, in den die gepeinigte Kreatur blickt. "Ich dachte noch schwach: Wie schade, ich hätte mich gar zu gern von der Mutter umarmen lassen." Stupide und herzenskalt, wer von diesen Sätzen unberührt bleibt.

Lange wurde Kantorowicz’ "Tagebuch" ungeprüft als Primärquelle zitiert, obwohl bekannt ist, daß die Bücher geläuterter Kommunisten "vom Ende her und auf das Ende hin, den Bruch hin ... erzählen" (H. Kuhn), so daß sich, mit Hermann Kant, der Kantorowicz’ Assistent an der Berliner Humboldt-Universität war, die Frage aufdrängt, inwieweit Kantorowicz "sein eigener Kujau" gewesen ist. Seghers und er kannten sich seit den zwanziger Jahren und waren befreundet. Gemeinsam hatten sie 1941 die gefahrvolle Überfahrt von Europa nach Amerika unternommen Der unvermittelte Haß, der aus seinen Aufzeichnungen spricht, erzählt von einer tiefen Verletzung. Diese Verletzung läßt sich anhand von SED-Akten rekonstruieren und als ein großes Mißverständnis widerlegen.

Kantorowciz war am 22. August 1957 nach West-Berlin geflüchtet. Am nächsten Tag wurde seine Flucht in derWelt gemeldet, am 24. August heulte das Neue Deutschland auf: "Kantorowicz zum Feind übergelaufen". Einen Tag später erschien im ND eine Erklärung, in der es über den Flüchtigen hieß: "Seinen eigenen Fall vorwegnehmend, schrieb er 1949 über seinesgleichen: ’Wir dürfen zufrieden sein. Je mehr von der Sorte wir loswerden, desto besser für uns. (...) Es wird sauberer bei uns.‘ " Unterzeichnet war die Erklärung von DDR-Schriftstellern, die sämtlich Westemigranten waren. Zu ihnen gehörten Ludwig Renn, Bodo Uhse, Stephan Hermlin und – Anna Seghers.

Wenigstens in ihrem Fall lag eine Manipulation vor, wie ein Dokument vom 25. August 1957 zur "Einholung der Unterschrift der Genn. Seghers zur Erklärung gegen Kantorowicz" belegt. Seghers hatte weder ihre Unterschrift gegeben noch an der Erklärung mitgewirkt. Sie machte Urlaub in der Hohen Tatra. Die Botschaft in Prag wurde beauftragt, einen Emissär zu ihr zu schicken, um eine Blankounterschrift einzuholen. Der Diplomat traf dort am Morgen des 25. August ein. Er berichtete ausführlich, wie die Autorin sich gegen die Zumutung wehrte und gleichzeitig bemüht war, ihre grundsätzliche Loyalität zu beweisen.

Die Auseinandersetzung dauerte mehrere Stunden, in denen Furcht und Selbstachtung in ihr rangen. "Als ich der Genn. Seghers den Sachverhalt erklärte, war sie sehr überrascht und nahm sofort gegen Kantorowicz Stellung. Sie (machte) mehrere Einwendungen gegen eine Unterzeichnung mit ihrem Namen. (...) 1. Ich unterzeichne nicht gern etwas, was ich nicht gelesen habe. 2. Form und Inhalt einer solchen Erklärung müsen, wenn ich unterzeichne, einwandfrei und von mir selbst mitverfaßt sein. 3. Wenn einer der im Telegramm genannten Schriftsteller nicht unterschreibt, unterschreibe ich auch nicht. 4. Die Erklärung muß so aussehen, daß man sich den K. nicht auf Lebenszeit zum Todfeind macht. 5. In Berlin werden solche Erklärungen manchmal von irgendwelchen Leuten gemacht, die das nicht verstehen, und manchmal werden dann Unterschriften von Leuten darunter gesetzt, die davon gar nichts wissen. 6. Ich will lieber selbst etwas darüber schreiben, wenn ich wieder in Berlin bin."

Am Ende weigerte sie sich. "Da ich mit Genn. Seghers den ganzen Tag verbrachte, konnte ich bemerken, daß sie in dieser Angelegenheit sehr unentschlossen und schwankend war, obwohl sie über die feindliche Haltung des K. genau informiert war, da ich ihr (...) Die Welt (...) übergab." Da war die Erklärung inklusive ihrer – gar nicht gegebenen – Unterschrift längst erschienen. Ein Dementi wagte Anna Seghers nicht. Die Folgen dieser Unterlassung wirken bis heute nach.

 

Neuveröffentlichungen: Anna Seghers: "Jans muß sterben". Erzählung, 86 S., 29,80 DM; "Hier im Volk der kalten Herzen". Briefwechsel 1947, Tb., 260 S., 17,90 DM; Christiane Zehl-Romero: "Anna Seghers". Eine Biographie. 557 S., 59,80 DM. Alle im Aufbau-Verlag, Berlin 2000, erschienen.


 
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