© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/00 17. November 2000

 
Kolumne
Deutsch-Sein
von Klaus Motschmann

Die seit Wochen andauernde Auseinandersetzung um den Begriff "deutsche Leitkultur" hat wieder einmal die Frage aufgeworfen "Was ist deutsch?" Die Antwort darauf kann ebenso zutreffend wie kurz und bündig lauten: diese Auseinandersetzung! Sie ist in keinem anderen Volke auch nur denkbar, geschweige denn in dieser Form und Argumentation zu führen.

Dafür gibt es verschiedene Gründe, die aber im wesentlichen auf das hinauslaufen, was Friedrich Nietzsche in seiner Betrachtung "Zum alten Problem: Was ist deutsch?" bemerkt hat: "Das Erkennbare scheint uns als solches schon geringeren Wertes. Wir Deutsche sind Hegelianer, auch wenn es nie einen Hegel gegeben hätte, insofern wir (im Gegensatz zu allen Lateinern) dem Werden, der Entwicklung instinktiv einen tieferen Sinn und reicheren Wert zumessen als dem, was ’ist‘ – wir glauben kaum an die Berechtigung des Begriffs ’Sein‘."

Deutsch-Sein äußert sich demzufolge in der dauernden "Sehnsucht nach dem anderen Zustand", von dem man nicht genau weiß, wie er erreicht und wie er beschaffen sein soll. Deshalb liebt der Deutsche "die Wolken und alles, was unklar, werdend, dämmernd, feucht und verhängt ist: das Ungewisse, Unausgestaltete, Sich-Verschiebende, Wachsende jeder Art fühlt er als ’tief‘. Der Deutsche selbst ist nicht, er wird, er entwickelt sich", so Nietzsche. Entsprechende Äußerungen ließen sich von Martin Luther und Karl Marx, Goethe und Hölderlin, Bismarck und allen namhaften Historikern anfügen.

Allerdings werden sie nach Maßgabe der strengen Leitlinien unserer ideologisch fixierten linken Leitkultur kaum berücksichtigt. Einerseits, weil sie zur Auseinandersetzung mit den "wahren Bedürfnissen der Menschen statt mit dem Bedürfnis nach Wahrheit" der Ideologen zwingen würden; andererseits, weil eine derartige Auseinandersetzung – gerade auch im Blick auf die bereits damals angestrebte "Völkerverbrüderung"! – dieses pseudosozialistische "Gewand, gewirkt aus spekulativem Spinnweb, überstrickt mit schöngeistigen Redeblumen, durchtränkt mit liebesschwülem Gemütstau" erbarmungslos zerreißen würde und damit endlich "wirkliches Wissen an die Stelle von Phrasen"treten könnte – so jedenfalls Friedrich Engels, nicht eben eine Leitfigur der politischen und intellektuellen Rechten.

Die grundsätzliche Frage an alle Ideologen stellt sich auch hier: Sind sie sich dieser Tatsachen nicht mehr bewußt – oder täuschen sie unser Volk bewußt? Weder das eine noch das andere ist eine Voraussetzung, die Probleme unserer Zeit zu lösen.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin


 
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