© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/00 17. November 2000

 
Ins offene Messer gelaufen
Parteien: Die linksdominierte "Einheitsfront" bei der Staatsdemonstration am 9. November hat die Union gelähmt
Alexander Schmidt

Deutschlands Linke ist dem bürgerlichen Lager zur Zeit in Fragen der Organisation und Strategie um Längen voraus. Ebenso neidlos müssen Vertreter von Christenunion und Christsozialen erkennen, daß die Eigenschaft Kohls, die Gunst der Stunde zu nutzen, zwar nicht von seinen parteipolitischen Erben aufgenommen wurde, wohl aber von denen, die das Erbe seiner Regierung antraten.

Der Union gelang es niemals, fast die gesamte Bandbreite des politischen Spektrums – von der Antifa angefangen bis zur CSU – in einer gemeinsamen politischen Demonstration zu vereinen. Dies geschah jedoch am 9. November diesen Jahres mit einer Demonstration, die als gemeinsame Kundgebung gegen Rassismus und Gewalt deklariert war und sich für den Wiederaufbau einer handlungsfähigen Union als paralysierendes Element gezeigt hat. Ein nationaler Gedenktag ist zum Schauplatz des politischen Machtkampfes degradiert worden.

CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz, der noch am Tag zuvor in der Berliner Zeitung erklärte, warum er gegen Gewalt und Totalitarismus mitmarschieren werde, fand sich plötzlich in der Reichweite von Plakaten linker Gruppen wieder, auf denen unverblümt gegen die Leitkultur polemisiert wurde. Hätte Merz zu Beginn noch davon ausgehen können, daß es sich hier um einzelne Demonstrationsteilnehmer gehandelt habe, kam der K.o.-Schlag gegen die Union später und hochoffiziell.

Paul Spiegel, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, begann mit dem Rückblick auf die Reichskristallnacht und die in Deutschland vorkommende Gewalt gegen Ausländer. "Wollen Sie eines Tages von Glatzköpfen und deren Vordenkern regiert werden?" fragte Spiegel. Natürlich nicht, auch Friedrich Merz nicht, der noch nicht wissen konnte, wer denn mit den Vordenkern gemeint war.

Spiegel kam auf vermeintliche Aussagen eines CSU-Abgeordneten zu sprechen, um daraufhin den Begriff Leitkultur, mit dessen Klang auf den Lippen die Union auf die Demonstration gezogen ist, mit einem neuen Inhalt zu füllen. "Was soll das Gerede um die Leitkultur? Ist es etwa deutsche Leitkultur, Fremde zu jagen?" Angela Merkel, die hinter Spiegel steht, zuckt zusammen. Paul Spiegel fährt fort weiter und fragt, ob es Leitkultur sei, Fremde zu jagen und Synagogen anzünden. Merkel zuckt wieder zusammen, der Redner fährt fort: "Überlegen Sie, was Sie sagen, und hören Sie auf, verbal zu zündeln!"

Die Union gleicht zu diesen Zeitpunkt der Maus einer der Fabeln Kafkas, die entlang einer Mauer immer schneller auf eine Falle zuläuft, wissend, nicht anders handeln zu können, da die Entscheidung über den Weg schon vorher getroffen worden ist. Genauso ausgeschlossen ist auch die Umkehr. Nachdem sich die Union am kollektiven Kampf gegen Rechts massiv beteiligte, muß man dort nun erkennen, daß auch die eigene Partei das Ziel war.

Die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV) und CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach sagte, daß die CDU in die Antifa-Falle getappt sei, und wies die Demonstration als peinliche Veranstaltung für die Partei zurück. Unter dem Deckmantel des demokratischen Kampfes gegen Rechts wurde die Union angeleint, um auf dem Höhepunkt der Welle gegen Rechts gegen sich selbst zu demonstrieren. Hier gab es allerdings bereits kein Zurück mehr, weil der Tag der Demonstration an Symbolwert kaum zu überbieten ist. Nur die wenigsten hätten verstanden, warum sich eine christdemoktratische Volkspartei nicht an den Gedenkmärschen zur Reichskristallnacht beteiligt hätte.

Ebensowenig begibt sich die Union in die Gefahr, Paul Spiegel wegen seiner Rede anzugreifen. Obwohl Merz noch vierzehn Tage zuvor in der Welt gegen political correctness und Gutmenschen schimpfte, weiß er, daß der Vorsitzende des Zentralrates ein Tabu bildet. Nur der stellvertretende Fraktionschef der Union im Bundestag, der frühere Bürgerrechtler Günter Nooke, nannte Spiegels Kritik an der Debatte über eine deutsche Leitkultur "schlicht unanständig". Und der Fuldaer CDU-Abgeordnete Martin Hohmann hat bisher als einer der wenigen die Unterstellungen Spiegels als unangemessen und bösartig zurückgewiesen. Paul Spiegel müsse sich aber überlegen, ob seine einseitigen und ungerechten Vorwürfe das Klima zwischen den Juden und Nichtjuden in Deutschland nachhaltig schädigen, so der Abgeordnete.

Derweil ist es innerhalb der CDU um das Thema Leitkultur ruhig geworden. Der Schlag Spiegels saß, um so mehr, nachdem ein Gespräch mit ihm und Angela Merkel über die Leitkultur mit einem symbolischen Wangenkuß beendet wurde, die Parteichefin der Christdemokraten am Tag der Demonstration jedoch in ein offenes Messer lief, wie es von vielen gesehen wird.

Eines der letzten Themen, in denen der Union noch Kompetenz zugetraut wurde, nämlich in Fragen der Einwanderung, wird in der bisher geführten Form nicht weitergeführt werden. Michel Friedmann, der in einem Akt moralischer Entrüstung die hessische Union verließ, um seinem Parteifreund Peter Müller im Saarland zur Seite zu stehen, hat jetzt mit einem vollständigen Parteiaustritt gedroht. Damit konnte Friedmann seinen parteiinternen Einfluß ausbauen, da der Verlust des Vizepräsidenten des Zentralrates der Juden für die Union aus parteipolitischen Erwägungen nicht gewollt ist. Dennoch behält Angela Merkel ihre Rhetorik um Vaterland und Nation bei. Dies seien Begriffe, zu denen die Sozialdemokraten ein gestörtes Verhältnis hätten. Aus diesem Grund will sich die Union daran machen, diese Begriffe – wie auch die Leitkultur – mit Inhalt zu füllen.

Die Art des Inhalts wird davon abhängen, ob sich die CDU künftig vor Angriffen aus dem linken Lager nicht sicher weiß oder ob tatsächlich die Rückkehr zum Verfassungspatriotismus stattfindet.


 
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