© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/00 17. November 2000

 
"Es hätte ja auch ich sein können"
Jens Hamann über den Volkstrauertag, Gefallenengedenken und junge Menschen in der Kriegsgräberfürsorge
Moritz Schwarz

Herr Hamann, Sie sind dreiundzwanzig Jahre alt – empfinden Sie den Volkstrauertag als authentisch, oder sehen Sie ihn als reinen Ritus, wie er von junger Seite meist abqualifiziert wird?

Hamann: Auf keinen Fall. Er bedeutet durchaus individuelles Gedenken für mich. Wer so was sagt, dem kann ich nur empfehlen, einmal eine Gedenkveranstaltung zu besuchen. Wenn man dort die älteren Menschen um ihre Angehörigen, die im Krieg geblieben sind, weinen sieht, dann denkt man zurück und fragt sich, wie es einem damals wohl selber ergangen wäre.

Sie identifizieren sich mit den Opfern?

Hamann: Ja, genau. Im Stillen kommen schon so Gedanken – es hätte ja auch ich sein können, zu einer anderen Zeit.

Bedauern Sie, daß der Volkstrauertag vom Volk eigentlich gar nicht mehr wirklich wahrgenommen wird?

Hamann: Es ist schade, daß das Volk gar nicht mehr wirklich zusammenkommt. Er sollte wieder mehr ins Bewußtsein der Menschen rücken. Es wäre schon wichtig – auch um die Menschen zu warnen und künftigen Kriegen, Verfolgung und Gewaltherrschaft vorzubeugen.

Halten Sie es darüber hinaus für einen wichtigenWert, daß sich eine Gemeinschaft ihrer Toten erinnert?

Hamann: Auf jeden Fall. Das zeigt, das die Menschen zusammengehören – die Toten und die Lebenden und wir alle, im Angesicht unserer gemeinsamen Toten. Und es ist, wie schon gesagt, auch sehr wichtig für unser aller Zukunft.

Denken Sie, es war diesen Menschen – den gefallenen Soldaten – ein Trost zu wissen, daß sie nicht vergessen werden?

Hamann: Das glaube ich schon.

Sie sind Jugendgruppenleiter im Jugendarbeitskreis des "Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge". Sprechen Sie in Ihrer Jugendgruppe über diese Dinge?

Hamann: Wenn man auf einem Friedhof mit abertausenden von Gefallenenkreuzen arbeitet – und jedes Kreuz steht für vier Soldaten –, dann kommen solche Gespräche schon zustande.

Wie sind Sie dazu gekommen, sich beim Volksbund zu engagieren?

Hamann: Vor sieben Jahren lud mich ein Freund, dessen Vater beim Volksbund engagiert ist, zu einem Jugendlager in Frankreich ein.

Sie sind gebürtig aus Parchim, gab es denn in der DDR auch eine Kriegsgräberfürsorge?

Hamann: Nein. Es war gesetzlich verboten, solche Aktivitäten zu entfalten. Allerhöchstens unter dem Deckmantel der Kirche war so etwas damals möglich.

Man würde vermuten, daß die Jungen auf den Vorschlag der Alten, Kriegsgräberfürsorge zu betreiben – gelinde gesagt – eher unwillig reagieren?

Hamann: Ja, das war damals natürlich in erster Linie der Reiz des Jugendlagers. So muß man junge Menschen eben an eine Sache erst einmal heranführen.

Wann kam der Punkt, an dem der Spaß an den Fahrten dann in Interesse für die Sache umschlug?

Hamann: Ich hatte durchaus von Anfang an auch ein geschichtliches Interesse an dem Thema. Als ich dann nach knapp drei Jahren, in denen ich mehrmals an Fahrten und Lagern teilgenommen hatte, gefragt wurde, ob ich mich nicht auch aktiv im Verband engagieren wolle, sagte ich ja. So kam ich selber in die Jugendarbeit. Die Arbeit mit den Jugendlichen macht Spaß und bereichert: Man verschafft ihnen eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung und bringt ihnen unsere Geschichte nahe. Darüber hinaus ist es für einen noch jungen Menschen wie mich auch eine große Erfahrung, selbst Jugendliche anzuleiten.

Wie alt sind diese Jugendlichen?

Hamann: Bei den Fahrten etwa nach Frankreich oder Polen kann man ab sechzehn teilnehmen, bei Fahrten nach Rußland müssen die Jugendlichen achtzehn sein – das hat versicherungstechnische Gründe.

Warum halten Sie es für wichtig, diese Geschichte zu vermitteln?

Hamann: Der Wahlspruch unseres Verbandes lautet: "Versöhnung über den Gräbern". Es gilt aus unseren Erfahrungen zu lernen und es in der Zukunft besser zu machen. Wir sollten heute das Schicksal der Soldaten nicht vergessen und verstehen, was ihnen passiert ist.

Sie widmen dieser Aufgabe viel Zeit?

Hamann: Der Jugendarbeitskreis trifft sich grundsätzlich alle acht Wochen, zum Beispiel zu Arbeitseinsätzen auf Friedhöfenhier in Deutschland. Fahrten zu geschichtlich wertvollen Orten, zum Beispiel Schloß Cecilienhof, oder Straßensammlungen und Vorträge an Schulen werden unabhängig davon abgehalten. Dazu kommt für einen Teil des Jugendlagerleitungsteams dann noch die Vor- und Nachbereitungen für die Jugendlager-Fahrten. Ein Jugendlager dauert vierzehn Tage und findet einmal im Jahr statt.

In welche Länder fahren Sie?

Hamann: Ich nannte zum Beispiel bereits Frankreich und Polen, allgemein dorthin, wo eben deutsche Soldaten einmal gefallen sind. Wir treffen uns dann dort mit den örtlichen Behörden und sprechen mit ihnen die Arbeit ab. Das klappt in aller Regel gut. Wir laden junge Polen oder Franzosen aus der betreffenden Ortschaft ein, mit uns zu arbeiten, und es finden sich immer Freiwillge unter ihnen, die auch mitmachen. Wir laden sie dann ebenfalls zu unserem jährlichen internationalen Jugendlager bei uns zu Hause in Brandenburg ein.

Wie genau sieht Ihre Arbeit vor Ort aus?

Hamann: In westlichen Ländern werden schon vorhandene Grabanlagen betreut. Die Bepflanzung muß gepflegt werden, Steine und Kreuze müssen gereinigt und die Inschriften eventuell nachgemalt werden. Im Osten durfte auf den deutschen Friedhöfen oft jahrelang nichts gemacht werden, so müssen wir hier Gestrüpp entfernen und oft sogar Bäume fällen. Manchmal ist von dem Friedhof auch gar nichts mehr zu finden, die Grabsteine sind weg, möglicherweise als Baumateriel zweckentfremdet worden; und so müssen wir die Grabstätte als solche erst einmal wieder anlegen.

In Osteuropa betreibt der Volksbund auch die Suche, Bergung und Umbettung von Gefallenen?

Hamann: Das ist richtig, allerdings sind wir Jugendgruppen damit nicht befaßt. Das machen fest bezahlte Kräfte des Volksbundes. Dort, etwa in Rußland, legt der Bund auch ganz neue Sammelfriedhöfe an, wo bisher vermißte und erst jetzt durch Recherche und Suche vor Ort durch den Volksbund gefundene Leichen zur letzten Ruhe gebettet werden. Zuvor versucht man die Überreste anhand von Dokumenten, Erkennungsmarken und DRK-Unterlagen zu identifizieren. All das machen aber, wie gesagt, nicht wir Jungen. Allerdings haben wir auch schon zufällig mal Überreste gefunden, weil auf einem Friedhof in Polen die Gräber einfach offen waren. Für solche Fälle haben wir Säcke dabei, in die wir damals die Reste gepackt und dann mit nach Hause genommen haben. Auf der Landesgeschäftsstelle haben wir die toten Soldaten abgegeben, und die hat sich dann um die Bestattung gekümmert.

Aber Sie lernen auch das Land kennen?

Hamann: Wir arbeiten vier Stunden am Tag auf den Gräberfeldern, der Rest des Tages dient dazu, Land und Leute kennzulernen. Oft sind ja Jugendliche aus dem Gastland dabei. Am Wochenende machen wir dann Ausflüge in die Region. In Frankreich etwa nach Paris oder an die Atlantikküste.

Dennoch dürften die meisten jungen Deutsche Gräberpflege leider als äußerst unattraktiv empfinden. Kommen denn die Jungen auch ein zweites Mal wieder?

Hamann: Die meisten ja. In diesem Jahr habe ich achtzig Prozent vom letzten Jahr im Lager wiedergesehen. Es hat ihnen Spaß gemacht.

Woher kommt denn der Nachwuchs – alles Kinder aus Funktionärsfamilien?

Hamann: Nein, wir werben auch neue Leute. Etwa in Schulen, wo wir den Volksbund und seine Arbeit vorstellen. Immerhin, unsere Jugendlager sind jedes Jahr ausgebucht.

Sie haben bereits darauf hingewiesen, daß Sie die Gräberpflege als Friedensdienst betrachten. Welche Rolle spielt aber das Totengedenken an sich?

Hamann: Das ist natürlich bei der Arbeit immer präsent. Wenn die Arbeiten abgeschlossen sind, gibt es eine Totenehrung mit Kranzniederlegung und Schweigeminute.

Wie reagieren die ausländischen Jugendlichen darauf?

Hamann: Die akzeptieren das durchaus. Aber es sind Unterschiede festzustellen. Die französischen Jugendlichen verhalten sich bei so einer Totenehrung ganz anders als wir. Die stehen durchaus in Turnschuhen und Jogginghose da und lesen ihren Text unbeteiligt herunter. Das ist bei uns schon anders: Unsere Teilnehmer stehen geschlossen zusammen, und jeder grübelt still vor sich hin – es ist ernsthafter und beteiligter.

Wie ist das bei den Polen?

Hamann: Die Polen sind da auch ernsthafter, die machen das mehr wie wir.

Gibt es eine Grabstätte, die Sie besonders beeindruckt hat?

Hamann: Ich habe ja nun schon viele Soldatenfriedhöfe gesehen, aber ein Friedhof in Frankreich für die kanadischen Gefallenen des Ersten Weltkrieges hat mir besonders zu denken gegeben. Der Friedhof war recht groß und befand sich um ein Stück historischen Schützengrabens des ersten Weltkrieges herum auf dem Schlachtfeld bei den Vimy-Höhen. Das Areal ist so munitionsverseucht, daß noch heute kein Mensch die Anlage betreten darf. Zum Rasenmähen werden deshalb Schafe auf das Gelände getrieben. Als besonders beeindruckend empfand ich aber, daß so viele junge Soldaten über den Ozean gekommen waren, um hier ein Land zu beschützen, das gar nicht ihres war.

Wie reagieren Ihre Freunde und Kommilitonen darauf, wenn sie erfahren, daß Sie in Ihrer Freizeit Soldatengräger pflegen?

Hamann: Da kommt dann schon Verwunderung zutage: "Was so was machst Du?" und: "Was ist das überhaupt?" Das Erstaunen ist groß, denn man traut dem Jens so was nicht so recht zu – der sieht doch eher so aus, als ob er im Club jeden Samstag ’ne Platte dreht. Opa und Oma freuen sich aber natürlich. Ich habe auch schon wegen meines eigenen Urgroßvaters recherchiert, der im Krieg verschollen ist. Hätte das Ergebnisse gebracht, wäre ich natürlich dorthin gefahren, um ihn zu suchen. Leider war nichts herauszufinden.

Akzeptiern Ihre Altersgenossen das dann einfach als bizarres "Hobby", oder können Sie auch verständlich machen, daß die Gräberpflege und das Gedenken der Toten wichtig ist?

Hamann: Nein, die respektieren das schließlich und sehen schon ein, daß diese Arbeit wichtig ist.

Was machen Sie am Volkstrauertag am kommenden Sonntag konkret?

Hamann: An diesem Tag macht der Volksbund ja überall in Deutschland seine großen Gedenkveranstaltungen, etwa auf den Gefallenenfriedhöfen und häufig zusammen mit der Bundeswehr und der Kirche. Ich werde in diesem Jahr die Gedenkfeier bei uns zu Hause mitgestalten. Viele Mitglieder sind an diesem Tag aber auch unterwegs, um Spendengelder zu sammeln, denn der Volksbund finanziert sich ja ausschließlich aus Spenden. Am Volkstrauertag veranstalten wir deshalb große Straßensammlungen. Dabei unterstützt uns wiederum vielerorts die
Bundeswehr.

Haben Sie gedient?

Hamann: Ja, als Panzergrenadier. Ich habe als Wehrpflichtiger auch für den Volksbund gesammelt.

Sie hatten betont, die Kriegsgräberpflege als Mahnung zu verstehen, hat das Ihre Einstellung zum Soldatsein beeinflußt?

Hamann: Nein. Für mich bedeutete das keine Irritation. Ich sehe da keinen Widerspruch, und der Volksbund arbeitet doch viel mit der Bundeswehr zusammen, beileibe nicht nur bei den Volkstrauertagssammlungen.

Wie reagieren die Leute, wenn Sie für Kriegsgräber sammeln?

Hamann: Die Reaktionen sind oft gut. Ein besonders schönes Erlebnis war, als mir einmal ein Obdachloser fünf Mark in meine Büchse steckte. Als ich ihn fragte, ob er denn das Geld nicht selber bräuchte, erzählte er von seinem Vater im Krieg und daß er unsere Arbeit toll fände. Andererseits trifft man leider auch Leute, die einem den Vogel zeigen. Bei meiner Sammlung für die Bundeswehr bekamen wir auch Sachen, wie: "Geht mal nach Hause, Ihr Nazi-Pack!" zu hören.

Was denken Sie darüber?

Hamann: Daß die Leute das gar nicht richtig verstehen. Deshalb sagen sie so etwas.

Ist Ihnen das deutsche Soldatenschicksal durch Ihre Arbeit nähergekommen?

Hamann: Ja. Das war ja mit ein Grund, warum mich die Arbeit hier dann auch interessiert hat. In der DDR waren Kriegsgräber zwar vorhanden, aber immer nur von russischen Soldaten. Die sahen auch sehr pompös aus, denken Sie an die sowjetischen Ehrenmale in Berlin. Daß aber die kleinen deutschen Soldaten nirgends zu finden waren, das hat mich schon früher nachdenklich gemacht: Wo waren die Deutschen? Die waren weg, das hat mich gestört.

Haben Sie ein besonderes Verhältnis zu den eigenen Gefallenen?

Hamann: Ich glaube ja. Die Gefallenen der Anderen sind aber am Ende immer genauso Gefallene wie unsere auch.

So ist es ja auch Soldatentradition: im Tode sind alle Soldaten wieder Kameraden.

Hamann: So sehe ich das auch.

 

Jens Hamann geboren 1977 in Parchim. Er studiert Bauingenieurswesen an der Fachhochschule Neubrandenburg. 1993 trat er dem "Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V." bei. Seit 1995 engagiert er sich dort als Jugendgruppenleiter im Jugendarbeitskreis (JAK) des Landesverbandes Brandenburg.

"Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.": Der Volksbund wurde 1919 gegründet, um die zahllosen Soldatengräber des Ersten Weltkrieges zu pflegen. Heute betreut er 1,8 Millionen Kriegsgräber auf über 640 Friedhöfen. Deutsche Kriegsgräber gibt es in 100 Ländern der Erde. (Kontakt: Werner-Hilpert-Straße 2, 34117 Kassel, Tel: 0561/ 70090) www.volksbund.de

 

weitere Interview-Partner der JF


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen