© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/00 17. November 2000

 
Die Unfähigkeit zu trauern
Die Deutschen und das Gedenken an die Toten der Weltkriege
Carl-gustaf Ströhm

Wie geht ein Volk Mitteleuropas, das alle Schrecknisse zweier Weltkriege und totalitärer Systeme erfahren hat, mit seinen Toten um, mit seinen Söhnen, Vätern und (inzwischen) Großvätern, die im Felde geblieben sind und eines oft grausamen Todes starben?

Eine ganz einfache, aber gerade in ihrer Einfachheit ungemein eindrucksvolle Antwort findet sich in Floridsdorf, einem Wiener Vorort östlich der Donau, einem traditionell "roten" Arbeiterviertel. An der katholischen Pfarrkirche von Floridsdorf findet sich eine schlichte Gedenktafel mit folgendem Text: "Zum Gedenken an die Opfer beider Weltkriege: Der Soldaten an den Fronten, der Soldaten in den Gefangenenlagern, der Opfer des Bombenkrieges, der Opfer in den Gefängnissen und Konzentrationslagern des Nationalsozialismus, ermordet aus religiösen, rassischen und politischen Gründen, der aus ihrer seit Generationen angestammten Heimat Vertriebenen, der Opfer der Besatzungszeit."

Hier wird niemand ausgegrenzt, ausgeschlossen, niemand wird beschuldigt. Es gibt keine Pathetik – alle Opfer und Toten sind einbezogen, ob jene in den Konzentrationslagern oder jene, die im Bombenkrieg getötet wurden. Der Opfer der Vertreibung wird gedacht – und der Opfer der Besatzungszeit nach 1945.

Hier haben die Überlebenden den Toten – ihren eigenen genauso wie denen der sogenannten "anderen" Seite – ihre Totenruhe und ihre Würde gegeben. Nicht von Haß und Rache, nicht von Selbstgerechtigkeit und irgendwelchen Forderungen ist hier die Rede – sondern von einer großen, schrecklichen Tragödie, aus der am Ende nicht menschliches Wollen, sondern nur die Barmherzigkeit Gottes herausführen kann. Hier ist Floridsdorf nur ein Symbol für unzählige Dörfer und Städte, die das gleiche Schicksal zu teilen hatten.

In diesen Tagen des Totengedenkens zwischen Allerheiligen, Allerseelen und dem Volkstrauertag lohnt ein Blick in die fast vergessenen Schriften Hugo von Hofmannsthals. In einem Vergleich zwischen "Preußen und Österreichern" machte der Hofmannsthal mitten im Ersten Weltkrieg – im Jahre 1917, weder Nationalsozialismus noch Kommunismus waren schon an die Oberfläche der Geschichte getreten – einige interessante Beobachtungen. Den Preußen (im heutigen Verständnis: den Deutschen) attestierte er "Mangel an historischem Sinn". Über die Preußen sagte er: "Aktuelle Gesinnung – um 1800 kosmopolitisch, um 1848 liberal, jetzt bismarckisch, fast ohne Gedächtnis für vergangene Phasen." Dagegen hätten die Österreicher – so Hofmannsthal – eine "traditionelle Gesinnung, stabil fast durch Jahrhunderte". Die Deutschen (Preußen) unterwürfen sich "herrschenden Anschauungen und Gepflogenheiten", während die Österreicher einem "unbegrenzten Individualismus" huldigten. Vielleicht hat er die Österreicher, die inzwischen auch ihre geschichtsfremden und traditionslosen Sündenfälle kennen, ein wenig idealisiert.Und doch: Hofmannsthal hat mit seinem skizzenhaften Vergleich das Dilemma der Deutschen blitzartig erhellt – jenes Dilemma, das sich in der offensichtlichen Unfähigkeit manifestiert, die eigenen Toten geschichtlich einzuordnen und damit den Weg zu innerem Frieden zu öffnen.

Als vor einigen Jahren die örtlichen Behörden in Estland unweit der russischen Grenze einen deutschen Soldatenfriedhof wiederherstellten und feierlich einweihten, den die Sowjets nach 1944 plattgewalzt und mit Garagen überbaut hatten, war außer einem kleinen Häuflein von Deutschbalten kein deutscher Vertreter anwesend. Eine Ehrenkompanie der estnischen Armee schoß Salut – und am Eingang des Friedhofs wurde auf deutsch eine Tafel mit der Inschrift angebracht: "Ruhet in Frieden, Gefallene 1941–1945".

Als im unabhängig gewordenen Kroatien zu Beginn der neunziger Jahre im Walde von Macelj unweit der slowenischen Grenze Massengräber mit Opfern entdeckt wurden, die offenbar von den kommunistischen Partisanen "liquidiert" und verscharrt worden waren, meldeten die zuständigen kroatischen Behörden, es seien dort auch die Überreste umgebrachter deutscher Soldaten und Offiziere gefunden wurden. Die Kroaten waren damals erstaunt über das geringe Interesse, das von deutscher Seite gezeigt wurde.

Dieser Verlust an jenem historischen Instinkt, von dem Hofmannsthal sprach, hat sich in der Bundesrepublik seit langem schon manifestiert – ist aber seit Amtsantritt der rot-grünen Regierung gewissermaßen über sich selber hinausgewachsen. Schröder und mehr noch sein Außenminister Fischer sind geradezu Symbolfiguren der alt-neuen deutschen Geschichtslosigkeit, die – um mit Hofmannsthal zu sprechen – "kein Gedächtnis für vergangene Phasen" hat (und es auch nicht haben will).

Der Gerechtigkeit zuliebe sollte aber eines nicht vergessen werden: Als Hans-Dietrich Genscher Außenminister war, hatte sich bei dessen offiziellen Reisen in die damals noch sowjetisch beherrschten Oststaaten fast ein Ritual ausgebildet, an das sich der deutsche Außenminister strikt zu halten pflegte: Überall, wo Genscher im Osten hinkam, sprach er den dezidierten Wunsch aus, einen deutschen Soldatenfriedhof aufzusuchen, um dort einen Kranz niederzulegen. Damit brachte er seine kommunistischen Gastgeber nicht selten in größte Verlegenheit, denn überall im Ostblock und im kommunistischen Jugoslawien hatten die roten Machthaber die deutschen Soldatenfriedhöfe plattgewalzt, um jede Erinnerung an die "faschistischen Bestien" (und an eigene Niederlagen) zu tilgen. Jetzt aber kam ein liberaler deutscher Politiker daher – und wollte die "Faschisten" ehren!

Ich erinnere mich, wie die tschechischen Behörden vor dem Eintreffen Genschers die Gebeine deutscher Soldaten aus einem Prager U-Bahnschacht hervorzauberten, damit Genscher einen Kranz niederlegen konnte. Ähnliches geschah in Warschau und Moskau. In Belgrad gerieten die jugoslawischen Kommunisten fast in Panik und suchten krampfhaft nach deutschen Soldatengräbern. Man fand schließlich ein zugewachsenes Gräberfeld aus dem Ersten Weltkrieg, angelegt vom kaiserlichen Feldmarschall von Mackensen. Genscher kam und legte an den eiligst einigermaßen hergerichteten Gräbern seinen Kranz nieder. Die Pointe aber kam erst: Beim "Wiederausgraben" des deutschen Friedhofs war auch ein Friedhof für serbische Soldaten freigelegt worden. Der deutsche Marschall von Mackensen hat damals einen Friedhof für die im Kampf mit den Deutschen gefallenen Verteidiger anlegen lassen – und auf einem verwitterten Stein las man die deutsche Inschrift: "Hier ruhen serbische Helden".

Vor einigen Tagen haben überlebende Donauschwaben in der serbischen Vojvodina zum ersten Mal seit 1945 einen Gedenkstein für die massenhaft ermordeten Volksdeutschen in der serbischen Vojvodina eingeweiht. Aber diesmal fehlte das offizielle Deutschland. Ist es nicht so, daß fehlender historischer Sinn dem Menschen auch den freien Blick in die Zukunft verbaut?


 
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