© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/00 10. November 2000

 
Der Grübler im Stabilbaukasten
Peter Steins "Faust"-Inszenierung in der Berliner Arena
Hans-Jörg von Jena

Peter Stein hat’s gewagt mit Sinnen. Seine Inszenierung ist ein Ereignis, nicht bloß ein kurzlebiger "Event". Sie fasziniert keineswegs durchweg. Sie irrt mitunter. Aber noch dann, wenn sie sich im Durchschnitt-lichen oder sogar Dilettantischen verfängt, läßt sie respektvoll staunen.

Man hat es Stein jahrelang sonderbar schwer gemacht. Deshalb kommt dieser "Faust" auch spät. Noch einmal mußte der 63jährige ganz von vorn beginnen, mit unbekannten jungen Schauspielern und – wie schon bei der Expo in Hannover – in einer kahlen Mehrzweckhalle. Daß Stein die angestammte Schaubühne verweigert wurde, bleibt ein Berliner Skandal und eine Dummheit.

Deutschlands kulturelles Erbe wird, zu Recht oder zu Unrecht, gerade im Ausland mit Goethe identifiziert. Dafür steht schon der Name "Goethe-Institut". Ist da Attraktiveres denkbar als "Faust" in der neuen Hauptstadt, noch dazu als Quasi-Uraufführung des Gesamttextes?

Dabei widerspricht die Grundidee, den ganzen, 12.111 Verse umfassenden "Faust" auf die Bühne zu bringen, jeglicher Theatererfahrung. Steins enzyklopädischer Drang wäre demnach ein Wahn, wenn er für alle Zukunft gelten sollte. Einmal aber mußte es sein. Einmal mußte erwiesen werden, daß der "Faust", der ganze "Faust" für das Theater taugt.

Man spielt den "Faust" in zwei Versinen, als Wochenend-"Marathon" oder, wie es griffig heißt, in einer "Sushi"-Fassung an sechs Abenden. Ich habe die letzte vorgezogen und kann sie empfehlen. Den allermeisten gefällt es offenbar anders. In Berlin wird 34mal "Marathon" und nur dreimal "Sushi" gespielt, das letzte Mal zum Abschluß der ganzen Serie im Juli 2001. Ein Wochenende mit 23 Stunden "Faust" (sonnabends ab 15 Uhr, sonntags ab 10 Uhr, beide Male bis Mitternacht) befriedigt offenbar eine tiefsitzende Rekordsucht.

Eine Halle ist kein Theater, freilich auch kein "enges Bretterhaus". Ein Stahlgerüst wie aus dem Stabilbaukasten macht den hohen, weiten Raum bis unters Dach bespielbar. Auf den Stütztürmen sind Techniker am Werk oder räkeln sich verführerisch mythologische Sirenen. In der Mitte, da wo in einem herkömmlichen Theater der Kronleuchter hängt, ist ein begehbares Rund eingebaut. Dort thront Gott der Herr wie ein Chefarzt, umstanden von den Erzengeln als weißbekittelten Assistenten. Sie tönen unlustig und beiläufig. Ganz zum Schluß erweitert sich das Rund unter der Decke zur Spirale bis auf den Boden. Die Idee der Steigerung wird sinnvoll veranschaulicht, wenn Fausts Unsterbliches in Gestalt eines Knaben, von einem Mitglied der "seligen Schar" an der Hand geführt, die Spirale langsam emporschreitet.

Man kommt zu schaun, man will am liebsten sehn … Aber da hält uns Peter Stein karg. Einen filmischen Effekt gibt es nur einmal, wenn das "schreckliche Gesicht" des Erdgeistes sich so sehr vergrößert, daß man auf Hans Michael Rehbergs Nase jede Pore erkennt. Das "Fratzengeisterspiel" vom Raub der Helena findet als bloße Pantomime statt. Lichtregie wird selten zum Gestaltungsmittel. Aufbauten bestücken die Szene wie Kulissen: Aktenregale einer altertümlichen Kanzlei in Fausts Studierzimmer, ein scheußliches Spanplattengebilde als – wahrhaftig "spartanischer" – Palast.

Dafür wird man in Bewegung gehalten. Nach jeder Pause muß man sich in der Halle einen neuen Platz suchen. Am schönsten gelingen die Szenen am Kaiserhofe, wo das Publikum zwischen den Hochsitzen der Hochmögenden unversehens in die Volksmenge einbezogen ist. Ebenso als Zuschauer des Karnevalszuges oder als Gast der Geisterbeschwörung im Rittersaal, auf Bänken sitzend, Brot und Rotwein vor sich.

Mit den Massenszenen wird Stein weniger gut fertig als erwartet. In der Hexenküche mit ihren geschwänzten Meerkatzen geht es zwar lustig zu, Text und Sinn der Walpurgisnacht jedoch gehen in trostlosem Lärm und monotonem Durcheinander unter. Ihr klassisches Gegenstück kann sich halbwegs sehen lassen, wenngleich es auch hier an Gliederung mangelt. Eindrucksvoll dank des Chors der jungen Mädchen in Kostümen der Goethezeit (Moidele Bickel) die griechische Tragödie des Helena-Akts; hier ergänzen sich Tanz und subtile Sprachregie. Bei Homunculus spart sich Stein jeden Hinweis auf die moderne Gentechnik in verbissener Werktreue.

Allerdings: Um wirklich als werkgetreu zu überzeugen, müßte die Aufführung Goethe besser zu Wort kommen lassen. Will sagen: Es wird nicht gut genug gesprochen. Man hat Goethes Vielgestalt der Tonfälle vom Volksliedhaft-Schlichten, den schlagenden Reimen (sie klingen manchmal wie Wilhelm Busch) und Mephistos pointierenden Frechheiten bis zum Feierlichen und sehnsuchtsvoll Ausgreifenden immer bewundert. Das umzusetzen, Steins selbstgestellte Hauptaufgabe, gelingt ihm nur teilweise – auch weil es der Didaktik des Regiekonzepts entgegensteht.

Ein Beispiel: Stein mißtraut offenbar der Verständlichkeit verkürzter Adjektive. Aus "Mein alt’ Geschäft, das Schauspiel anzukünden" macht er, den Vers brechend, "Mein altes Geschäft…", und so immer wieder. Wenn Mephisto auf des Kaisers Drohung, er werde ihn zur Hölle senden, statt mit "Den Weg dorthin wüßt’ allenfalls zu finden" mit "Den Weg dorthin wüßte ich …" reagiert, ist die Pointe verdorben. Sobald Musik und Geräusch unterlegt ist, versteht man das Wort kaum mehr. Und die Haupt- und Staats-Alexandriner am siegreichen Kaiserhof verkommen leider zu bloßem Aufsagen.

Und die Schauspieler? Sie leiden oft an Angst vor Ausdruck. Die Spannweite, das Gefälle der Dichtung wird dadurch eingeebnet. Die beiden Mephistos sind nicht böse oder dämäanisch; Robert Hunger-Bühler bleibt im Grunde die "lustige Person" des Vorspiels, Johann Adam Oest ein trocken-nüchterner Kumpan, abkommandiert in Fausts Dienst, mehr unlustiger Leporello als Satan. Bruno Ganz trägt die Last beinahe allein. Ein Grübler, kein Spieler, ein Wägender und entschlossen Wagender, bleibt er mit seiner besonnenen, klaren Sprechweise und nachdenklichen Präsenz das Zentrum des Geschehens auch dann, wenn er dem Spektakel nur zuschaut. Wie farblos nimmt sich leider neben ihm Christian Nickel aus, der den jungen Faust spielt! Ein steifer Schönschwätzer, kein Phantast, bleibt er auch als Euphorion ohne Überschwang und Leidenschaft.

Gretchen (Dorothee Hartinger) ist die beglückende Entdeckung der Aufführung. Sie hat die nicht erlernbare Einfachheit des Herzens und jugendlichen Übermut. Und sie geht mit der Stimme wunderbar um, gluckst, schwärmt, schluchzt. Im Kerker vor allem eine aussichtslos Verzweifelte, scheint sie im Innersten durch den Wahn unzerstört. In schöner Hoheit, distanziert und damenhaft, kommt Corinna Kirchhoff dem Helena-Idol sehr nahe. Ansonsten, bei Dutzenden von kleineren Rollen, überwiegt der Eindruck gewollter Harmlosigkeit. Die drei Gewaltigen gerieren sich in ihren Rüstungen als klappernde Trottel, die Lemuren als gefühllose Zyniker.

Ihr wißt, auf unsern deutschen Bühnen probiert ein jeder, was er mag … Stein hat, voller respektablem Eigensinn, den ganzen "Faust" probiert. Es ist ein Versuch, keine Vollendung. Aber er ist auf dem richtigen Weg in der Rückkehr zum Text, in der brüsken Abwendung von der Willkür des Regietheaters. Das zu sehen und zu hören sollte man sich trotz Unvollkommenheiten und Strapazen nicht entgehen lassen. Goethes Weltgedicht leuchtet hier letztlich unverdunkelt. Und herrlich wie am ersten Tag.


 
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