© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/00 10. November 2000

 
Pankraz,
Ex-Präsident Clinton und die Boomziegen

Außer mit dem Stichwort "Monica Lewinsky" wird sich die Erinnerung der Archive an den abtretenden US-Präsidenten Clinton mit dem Stichwort "Boom" verbinden. Europas Volkswirtschaften dümpelten in den letzten Jahren vor sich hin, war immer wieder zu lesen, die amerikanische Wirtschaft hingegen begann unter Präsident Clinton zu "boomen", und sie "boomt" noch immer, ein einmaliges Phänomen, wie die Nationalökonomen versichern.

Nun freut sich zweifellos jedermann, wenn eine Wirtschaft wächst, blüht und gedeiht. Freut er sich aber auch, wenn sie "boomt"?. Das scheint weniger sicher. Pankraz jedenfalls bekommt jedesmal eine Gänsehaut, wenn er in eine "boomtown" einfährt oder ein Geschäft betritt, das einen "boom" hat, das einer "Boombranche" angehört. "Boom" steht da faktisch immer für Unseriosität, für hastige Augenblickslösungen und unverfrorenes Über-die-Löffel-Balbieren.

Schon das Wort stimmt bedenklich. "Boom" heißt im Englischen ja nicht nur Wirtschaftsaufschwung, Hochkonjunktur, Hausse, sondern auch Rummel, Krawall, betrügerische Machenschaft, besonders in Wahlkampfzeiten. In Amerika spricht man statt von den "68ern" von den "babyboomers" – und meint damit ein Geschlecht, dem die Frechheit, der ungenierte Zugriff in Bezirke, in denen es nichts zu suchen hat, ins Gesicht geschrieben steht, eine Generation, die einfach auf Grund ihrer Masse und ihrer ungezügelten Lebensgier die ausschlaggebenden Posten besetzt hat.

Präsident Clinton ist zum Symbol dieser Babyboomer-Generation geworden. Angesichts seines Auftretens und seiner Politik beginnt man sich zu fragen, ob ein "Boom" denn wirklich ein Aufschwung im klassischen Sinne ist oder nicht vielmehr nur die hemmungslose Ausdehnung auf einem bereits erreichten Niveau, die Verwandlung von Qualität in bloße Quantität.

Der Oberbabyboomer Bill Clinton hat bekanntlich nach seinem Amtsantritt nicht die geringsten neuen Bedingungen für effizientes Wirtschaften geschaffen, er hat die von seinen Vorgängern installierten "Reaganomics" lediglich ausgenutzt, unter Preisgabe jeglicher eigener linker Programmatik, wie sie versprochen war. "Boomer" erfinden nichts, schaffen keine neuen Werte, sondern werten nur noch aus, verwandeln neugeschaffene Werte in "cash-value", sahnen ab. Sie verlassen sich nicht mehr auf sich selbst, sondern nur noch auf den Selbstablauf der Dinge.

In typischen Boomerkreisen herrscht folglich eine Formelgläubigkeit wie sonst nur noch in konfutsianischen Mandarinenzirkeln. Man schmeißt mit Phrasen und angeblichen Wunderwörtern (Shareholder value, New economy) nur so um sich, glaubt allen Ernstes, damit Wirklichkeit zu treffen, und ist doch gleichzeitig zutiefst von der Vergänglichkeit der aktuellen Masche überzeugt und von heimlicher Torschlußpanik erfüllt. Jeder möchte schnell seinen Reibach machen, bevor es wieder andersrum geht.

So kommt es zu jenen horrenden Qualitätsverschlechterungen, die jeden Boom mit Sicherheit begleiten. Man stellt die aktuelle Masche grell heraus, produziert wie wahnwitzig in eine mit Schlagwörtern verzierte Richtung – und das geht dann auf Kosten gründlicher Absicherungen, seriösen Materialeinsatzes, gediegener Folgekostenberechnung, ob nun in der Wirtschaft, in der Wissenschaft oder auch im Kulturbetrieb.

Boomzeiten sind immer schlecht für die Moral. Die Boomer sind durch die Bank Ritter der schnödesten Rücksichtslosigkeit, und fast noch schlimmer sind die vielen Möchtegern-Boomer, die sich an den Trend anhängen, ohne ihm im mindesten gewachsen zu sein, und die deshalb scharenweise auf die Nase fallen, mit dem Gesetz in Konflikt geraten, ins kriminelle Milieu absinken.

Große Booms wurden stets begleitet von furchterregenden Kriminalitätsschüben. In Clintons Boom-Amerika stieg die Zahl der Gefängnisinsassen bis über die Zwei-Millionen-Grenze, d. h. jeder hundertste US-Bürger sitzt mittlerweile im Knast, weil er irgendwie illegal am großen Boom teilhaben wollte.

Bricht ein Boom zusammen (und jeder Boom bricht früher oder später zusammen), so sind die Trümmer traurig anzusehen. Da gibt es riesige, blindlings hochgezogene Büroraum-Kapazitäten, die ungenutzt vor sich hin gammeln und deren schlechte Architektur das Stadtbild einst schöner Metropolen auf Jahrzehnte hinaus verschandelt. Da sind notleidende Industriezweige, die völlig überflüssig geworden sind und weggeräumt werden müßten.

Und da sind ganze Heere von enttäuschten, sozial und mental gestrandeten Menschen, die sich kaum berappeln können und deren Erzählungen und Gesänge nirgendwo mehr hinpassen, wie es ja einst schon Bert Brecht am Ende eines dieser großen Booms (Ende der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts), höhnisch zwar, aber doch auch selber enttäuscht, bedichtete: "Noch werden Schallplatten verkauft, / Doch was erzählen uns diese Ziegen eigentlich, die nicht / Singen gelernt haben? Was / Ist der Sinn dieser Gesänge? Was haben sie uns / Eigentlich vorgesungen, all diese Jahre lang?"

Es gilt offenbar, Gesängen, die den Boom feiern, gründlich zu mißtrauen. Stets, wenn sie ertönen, ist Gefahr im Verzug, beginnt eine kreative, qualitätvolle Aufschwungphase, sich in eine bloß noch nachahmende, rein quantitative Boomphase zu deformieren. Viel wäre erreicht, wenn es gelänge, aus echten Aufschwungphasen jeweils gleich in seriöse, auf Qualitätswahrung und Augenmaß bedachte Konsolidierungsphasen überzuleiten.

Politiker, Wissenschaftler, auch Künstler könnten dazu beitragen. Für frisch gewählte US-Präsidenten wäre ein solcher Beitrag geradezu Pflichtpensum. Doch wer mag sich schon exponieren, solange die Boomziegen meckern?


 
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