© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/00 10. November 2000

 
Rinderwahn ergreift britische Torys
Massentierhaltung: Politik macht allzu menschliche Fehler / BSE auf dem Vormarsch
Volker Kempf

Die Rinderseuche BSE hat in jüngster Zeit wieder für einiges Aufsehen gesorgt. Auslöser sind der Bericht einer von Premierminister Tony Blair 1998 eingerichteten Kommission zum Thema, sowie eine Untersuchung der Münchner Soziologin Kerstin Dressel. Hiernach wurden die von der Rinderseuche BSE ausgehenden Risiken von den von Margaret Thatcher und John Major geführten Regierungen zugunsten der Marktpräsenz von britischem Rindfleisch verharmlost, wissenschaftliche Studien wurden manipuliert und zensiert. Der Umweltmediziner Wolfgang Ritter schätzt im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT das Ausmaß der BSE-Seuche beziehungsweise der Übertragungsrisiken für den Menschen für weit schlimmer ein, als die bisherigen Todesfälle vermuten lassen. Ritter sieht bis heute auch schwerwiegende Versäumnisse auf deutscher Seite am Wirken.

Die Geburt der BSE-Tragödie begann im 18. Jahrhundert in England. Bei Schafen tauchte eine Krankheit mit Störungen der Körperkoordination auf. Dieses Krankheitsbild deutet auf eine Schädigung des Kleinhirns hin. Auslöser dieser Krankheit ist ein Erreger mit dem Namen Prion – ein körpereigenes Eiweiß mit strukturellen Veränderungen. Auch heute noch taucht bei Schafen in Großbritannien gelegentlich diese Erkrankung auf. Durch Verfütterung von ungenügend erhitztem Tiermehl aus vor ihrem Tod erkrankten Schafen an Rinder konnte der Erreger die Artgrenze zu Rindern überwinden und dort die Krankheit BSE (Bovine Sponginforme Encephalopathie) auslösen. Der erste Fall dieser Rinderkrankheit wurde in Großbritannien 1984 registriert. Der Mensch wiederum kann durch BSE-verseuchtes Fleisch eine besondere Form der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit bekommen, wie heute als erwiesen gilt.

Am 20. März 1996 sprach der britische Gesundheitsminister Dorrell erstmals öffentlich davon, daß man von der Gefahr einer BSE-Infizierung beim Menschen aufgrund von vorliegenden Fällen ausgehen müsse. Bis Oktober 2000 starben nachweislich über 80 Menschen an der Erkrankung, die bei Rindern eine Inkubationszeit von fünf bis sieben Jahren hat und bei Mäusen gar nicht zum Ausbruch kommt. Der Umweltmediziner Wolfgang Ritter erklärt gegenüber der JUNGEN FREIHEIT, daß von einem einheitlichen Krankheitsbild der BSE-Erkrankungen beim Menschen nicht unbedingt ausgegangen werden könne. Im Gegenteil würden Computer-Gehirntomographien von parkinsoiden Erkankunge "verblüffend große Ähnlichkeiten mit Bildern von BSE-Erkrankungen" aufweisen. Ähnliches gelte in etlichen Fällen beim Verdacht auf die Alzheimer Krankheit, so der Umweltmediziner. Das britische Gesundheitsministerium selbst schließt mittlerweile nicht mehr aus, daß schon heute Millionen von Menschen mit dem BSE-Erreger infiziert sind.

Ein Ende Oktober 2000 veröffentlichter Bericht einer 1998 von Premierminister Tony Blair eingerichteten Untersuchungskommission stellt heraus, daß unter der konservativen Regierung in Großbritannien die Gefahr für Menschen lange verharmlost wurde. Vor allem die damals amtierenden Landwirtschaftsminister sind Gegenstand der Kritik. Zwar wirft ihnen die Kommission nicht vor, die Gefahr für Menschen gekannt und bewußt ignoriert zu haben. Jedoch sei eindeutig und unmißverständlich verkündet worden, es bestünde kein Risiko für die Bevölkerung. John Gummer, Landwirtschaftsminister von 1989 bis 1993, ließ beispielsweise vor der versammelten Presse seine vierjährige Tochter einen Hamburger essen, um glaubhaft zu machen, daß britisches Rindfleisch ungefährlich sei. Zu jener Zeit sei aber längst bekannt gewesen, daß eine Hauskatze an BSE erkrankt war. Damit habe der Beweis vorgelegen, daß BSE Artgrenzen überspringen könne. Der ehemalige Minister Gummer beteuerte vor dem Untersuchungsausschuß hingegen, nichts zu bereuen und noch immer britisches Rindfleisch zu essen.

Diese Haltung deckt sich mit dem Ergebnis einer Untersuchung der Münchner Soziologin Kerstin Dressel, die anhand von 50 Experteninterviews ausgemacht hat, daß britische Politiker wissenschaftliche Studien manipulierten und zensierten, um ihre BSE-Politik zugunsten der Möglichkeit des weiteren Handels mit britischem Rindfleisch zu rechtfertigen. Auch sei mehr auf prominente denn auf fachkompetente Wissenschaftler gesetzt worden. Der Zugang zu Untersuchungsmaterial von mit BSE verseuchtem Material sei für Forscher jenseits der Insel erschwert worden. Die EU habe daraufhin auf britische Studien gebaut und das Rindfleischembargo 1999 aufgehoben. Auf diese Erkenntnisse vom Nachrichtenmagazin Focus angesprochen, erklärt der Ex-Präsident des Berliner Bundesgesundheitsamtes, Dieter Großhaus, es habe ihn schon immer geärgert, sich auf Untersuchungen aus Großbritannien verlassen zu müssen.

Großklaus hatte in Brüssel besonders früh vor BSE gewarnt, wurde aber gerne als Hysteriker abgetan. Symptomatisch für jene Zeit ist die Wochenzeitung Die Zeit, welche in ihrer Ausgabe vom 7. Februar 1997 von einer "BSE-Hysterie" spricht und eine typisch deutsche Gründlichkeit beim Töten am Werke sieht, weil Großbritannien von Deutschland "vehement ein Tötungsgebot" von Rindern "aufgezwungen" bekam.

Den bösen und kaltblütigen Deutschen zu konstatieren, war zu jener Zeit sicher wenig hilfreich. Die Realität sah in Großbritannien tatsächlich nämlich so aus, daß unter Thatcher der Glaube an die Industrie so grenzenlos war, daß etwa eine Anordnung aus dem Jahr 1989, Hochrisikogewebe wie Gehirn und Rückenmark bei Schlachtungen zu entfernen, bis 1995 nur sehr lückenhaft umgesetzt wurde. Der Umweltmediziner Ritter sieht auch in der deutschen Politik Leichtfertigkeit am Werk, da Schlachtabfälle über die gängige Tierkörperbeseitigungspraxis wieder in den Nahrungskreislauf gelangen. Statt dem Abhilfe zu schaffen, werde weiter geforscht und das Problem vertagt. Daß nämlich eine Kontrolle der verordneten Erhitzung von Schlachtabfällen auf 134 Grad Celsius für die Verbraucher ausreichend Sicherheit gewährt, sei keineswegs erwiesen, so Ritter auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT.

Die Rinderseuche BSE zieht sich zu einem Krisensymptom einer politischen Kultur zusammen, die sich im Falle der britischen Konservativen einem sehr lax verstandenen Liberalismus angebiedert hat: Schaden vom Volk abzuwenden und zu diesem Zweck auch klare Handlungsrahmen zu setzen, wurde versäumt. Der BSE-Skandal wird damit zu einem Skandal eines allzu sehr wirtschaftsliberal aufgeweichten Konservatismus. Aber auch diejenigen, die hierzulande dazu neigen, Politik auf eine häßliche deutsche Seele zu reduzieren, müßten Anstoß zum Nachdenken nehmen. In ihrer psychologistischen Lesart nämlich wäre die von Bärbel Höhn jüngst in den politischen Raum gestellte Forderung nach konsequentem Verbraucherschutz nichts als der Ausdruck des deutschen Wunsches nach Obrigkeit, welche einmal so richtig durchgreifen soll, wo es um die Buletten geht. Wohl wahr ist hingegen die Beobachtung von Tierschützern, daß bei all dem kaum jemand noch nach dem Wohl und Wehe der Kühe fragt, die als dumm gelten und die Ausgeburten unserer ach so fortschrittlichen Zivilisation zu spüren bekommen.


 
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