© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/00 10. November 2000

 
BLICK NACH OSTEN
Schöne Worte und ernste Drohungen
Carl Gustaf Ströhm

Schöne Worte und ernste Drohungen Estland, dessen Präsident Lennart Meri sich dieser Tage erstmals auf Staatsbesuch nach Deutschland begab (inoffiziell war er schon mehrmals hier), gilt als hoffnungsvoller "Musterknabe" unter den östlichen Aufnahmekandidaten für EU und Nato. Dennoch steht die jetzige Staatsvisite im Zeichen erheblicher Sorgen des kleinen Landes an der Südküste des Finnischen Meerbusens. Viele Esten haben den Eindruck, daß der Westen – vor allem Brüssel, aber auch Berlin – ihnen zwar immer wieder freundlich auf die Schulter klopft, daß aber bei der konkreten Aufnahmeprozedur in die westliche Integration nichts richtig vorwärtsgeht.

Der Grund dafür wird bei offiziellen Anlässen meist schamhaft verschwiegen: Der Westen zweifelt, ob es sich "lohnt", wegen einiger Millionen Esten, Letten und Litauer die Beziehungen zu Moskau "aufs Spiel zu setzen".

Dieses opportunistische Verhalten des Westens in der "Baltischen Frage" zeigt zugleich, in welchem Maße Moskau auch heute noch über ein Erpressungspotential verfügt. Das Problem, vor dem die Esten stehen, gleicht der Quadratur des Kreises: Niemand zweifelt daran, daß Estland zum Westen gehört, daß es weitaus mehr Gemeinsamkeit mit Skandinavien und den Deutschen Hansestädten aufweist als mit Rußland, das bestenfalls durch seine geographische Nähe und durch die Existenz einer von den Sowjets ins Land gepumpten künstlichen russischen "Minderheit" in Estland präsent ist.

Hier aber liegt der Hase im Pfeffer: Auch das postkommunistische Rußland hat den Verlust des Baltikums und vor allem Estlands nicht verschmerzt. Vieles deutet darauf hin, daß die russische Politik sich alle Optionen für die Zukunft offen hält – auch die einer "Rückkehr" in die von Zar Peter dem Großen im 18. Jahrhundert eroberten baltischen Gebiete.

Rußland benutzt dabei alle Mittel – einschließlich der Religion. Als der ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Bartholomäus, in Estland erschien, um die Zugehörigkeit der estnischen Orthodoxen zum ökumenischen und nicht zum Moskauer Patriarchat zu bekräftigen, löste dies wütende Reaktionen des Moskauer Patriarchen und russischer Medien aus. Obwohl die Esten mehrheitlich evangelisch-lutherisch sind, gibt es unter ihnen eine Minderheit von 50.000 Orthodoxen, die sich Konstantinopel unterstellt haben. Die Mehrheit der in Estland lebenden Russen aber folgt nach wie vor dem Moskauer Patriarchat. Somit wird die orthodoxe Kirchenfrage zu einer eminent politischen – Patriarch Bartholomäus sprach sogar von einer Moskauer "fünften Kolonne", die in Estland am Werk sei.

Was nun den Dialog Estlands mit dem Westen betrifft, besteht die Gefahr, daß estnische Argumente auf taube Ohren stoßen. Verschiedene westliche Emissäre drängen die estnische Regierung, doch endlich den im Lande lebenden Russen größere Konzessionen zu machen. Wenn die Esten antworten, das sei für ihr Ein-Millionen-Volk eine Frage der Sicherheit und der nationalen (z.B. sprachlichen) Existenz, wird das im Westen kaum begriffen. Es muß bezweifelt werden, ob etwa die Berliner rot-grüne Regierung für estnische Lebensfragen überhaupt Verständnis aufbringt. Die Hoffnung der Esten, vor allen anderen Kandidaten in die EU und dann auch in die Nato aufgenommen zu werden, könnte sich somit als Illusion erweisen. Der übermächtige russische Schatten liegt weiterhin über der estnischen Ostgrenze am Narwa-Fluß, und aus dem Westen kommen schöne Worte und Ermahnungen, nicht an die russische, sondern an die estnische Adresse.


 
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