© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/00 10. November 2000


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Haarproben
Karl Heinzen

In 22 der insgesamt 28 Wischproben, die SAT.1-Reporter Martin Lettmayer auf verschiedenen Herrentoiletten des Reichstagsgebäudes genommenen hat, sollen Spuren von Kokain gefunden worden sein. Tröstlich ist hierbei, daß alle vier Proben, die aus der auch für Normalsterbliche zugänglichen Plenar-ebene stammten, negativ getestet wurden. Wer dem Deutschen Bundestag gegen Fahrtkostenerstattung ein Stündchen lang bei seinem Tagewerk zuschaut, scheint also in der Regel clean zu sein. Das Herzstück unseres Gemeinwesens flößt trotz allem, was bekannt ist, immer noch eine gewisse Ehrfurcht ein, die vermutlich religiöse Wurzeln hat.

Diejenigen aber, die im Bundestag arbeiten oder gar selbstgewählte Volksvertreter sind, müssen natürlich eine andere Sicht dieser Institution an den Tag legen. Wer hier zu naiv auf einen pathetischen Anspruch vertraut, scheitert rasch der banalen Wirklichkeit. Das Leben in einer selbstreferentiellen Scheinwelt und der permanente Selbstbetrug hinsichtlich der eigenen Relevanz lassen sensiblen Menschen vielleicht tatsächlich keine andere Wahl als den Griff zu Wirkstoffen, die der Reflexion und ihren möglichen Konsequenzen ein Ende setzen. Wie anders soll ein nachdenklicher Abgeordneter zum Beispiel die Verachtung aushalten, die er beim Klinkenputzen im Wahlkreis hinter der Miene aufgesetzter Freundlichkeit sehr wohl zu erspüren vermag? Wie anders kann er sich motivieren, wenn er genau weiß, daß seine akribisch erarbeitete Kleine Anfrage das Geheimnis zwischen ihm und dem sie beantwortenden Ministerialbeamten bleibt? Was anders wird ihn dazu treiben, im Plenum das Wort zu ergreifen, wo er doch aus seiner Erfahrung abzuschätzen vermag, daß seine Rede von niemandem gehört und erst recht von niemandem nachgelesen wird? Menschen, die in solchen Aus-nahmesituationen permanent eine gute Figur abgeben müssen, ist es nachzusehen, wenn sie sich auf die gleiche Weise behelfen wie andere exponierte Leistungseliten in der Medien- und Unterhaltungsbranche auch. Wir alle wollen in der Politik nicht den kühlen Technokraten ohne Herz sehen, sondern den Menschen zum Anfassen, den Menschen mit all seinen Schwächen eben. Dafür sollten wir jenen Preis, den SAT.1 als Skandal zu enthüllen meinte, nur zu gerne zahlen.

Auf einem anderen Papier steht allerdings die Frage, inwieweit Beschlüsse, die von Politikern, die unter dem Einfluß solcher Wirkstoffe stehen, Gültigkeit beanspruchen können. Insbesondere die Staatengemeinschaft verdient hier einen besseren Schutz. Eine Ratifizierung internationaler Abkommen etwa sollte grundsätzlich mit einer Haarprobe der Parlamentarier einhergehen. Innenpolitisch wäre dies wenigstens für jene Entscheidungen wünschenswert, durch die Grundrechte von Bürgern eingeschränkt werden könnten oder gar sollen. Ein Verbot der NPD zum Beispiel darf es ohne eine auch im Ergebnis befriedigende, unter Aufsicht der OSZE vorgenommene Untersuchung aller involvierten Verfassungsorgane nicht geben.


 
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