© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/00 03. November 2000

 
Die Macht des Zufalls
Kino II: "Die Liebenden des Polarkreises" von Julio Medem nimmt sich viel Zeit
Silke Lührmann

Was soll man sich vorstellen unter einem "Liebesfilm für das neue Jahrtausend" (so eine Presseinformation zu Julio Medems "Die Liebenden des Polarkreises", an der der spanische Regisseur im Zweifelsfall unschuldig ist)? Welche Lieben liegen voll im Trend; welche sind, bis uns die nächste Nostalgiewelle heimsucht, endgültig antiquiert?

Vor allem geht es um Leben im Bewußtsein seiner Endlichkeit. Schicksal ist eine ebenso begrenzte Ressource wie Liebe, und wenn das Benzin ausgeht, stirbt man. Im Widerspruch dazu steht die Wiederkehr des Immergleichen als Gestaltungsprinzip. Diese Zirkularität findet ihr ausdrucksstärkstes Bild in der finnischen Mitternachtssonne, die um den Horizont kreist. Doch die darin implizite Erneuerung ist eine – zwar tröstliche – Illusion, ein Trick der Erinnerung und des Mediums Film. Die Geschichte endet, um eine Bedeutungsschicht reicher, wie sie begann: das Abbild des Liebenden in den Augen der Geliebten, das schneeverwehte Flugzeugwrack.

Jeder Satz ist ein Kompromiß, und jeder Satz kompromittiert. Worte sind immer etwas Nächstbestes, wenn das Beste wäre, ohne sie zu wissen, was gemeint ist. Nur ist ohne Worte nichts gemeint. Deshalb steht auf den Papierfliegern, die der achtjährige Otto über den ganzen Schulhof schießt, um Ana aus der Mädchenklasse auf ihn aufmerksam zu machen, etwas geschrieben. Was, das erfahren wir nicht. Eine Frage über die Liebe, soviel wissen wir, eine einzige, immer dieselbe, denn eigentlich sind alle Fragen Ottos, der "nichts von Mädchen wußte", dieselbe einzige – eine Frage, die so wichtig und so romantisch ist, daß sie imstande ist, die Leben derjenigen, die einen der Flieger aufsammeln und lesen, für immer zu verändern. Diese Frage bringt Ottos Vater Alvaro und Anas Mutter Olga zusammen. Sie ermöglicht Otto und Ana, ihre Jugend im selben Haus zu verbringen und miteinander die – verbotene – Liebe zu entdecken.

Hier spielt die Macht des Zufalls genauso eine Rolle wie die Macht über den Zufall. Der Wille zur Symmetrie beginnt bei den Namen: Während Anas verstorbener Vater den ihren auswählte, weil Palindrome angeblich Glück bringen, heißt Otto nach einem deutschen Flieger, dem Alvaros Vater im Spanischen Bürgerkrieg das Leben rettete. Der Film verschweigt nicht Olgas Entsetzen über diese Geschichte ("Du hast deinem Sohn den Namen eines Nazis gegeben?"), läßt sie aber als Parabel der aussöhnenden Gerechtigkeit stehen.

Medems hierzulande bislang bekanntester Film, "Das rote Eichhörnchen" (1993), tost als hektische Bilderflut über die Leinwand. "Die Liebenden des Polarkreises" nimmt sich viel Zeit, stets bemüht, seine Zuschauer nicht zurückzulassen. Viele Passagen werden zweimal erzählt, aus Ottos wie aus Anas Sicht. Wo dies unnötig ist, wirkt es dennoch nicht störend. Unaufdringlich verwebt der Film zeitgeschichtliche Details und Klischees in seine Struktur: Ottos Mutter, die blonde Deutsche, im aus der Franco-Diktatur erwachenden Spanien der siebziger Jahre; sein langhaariger Vater, der in einem nicht näher spezifizierten Büroberuf plötzlich erfolgreich zu werden beginnt; die bunten Strickpullover und die Hippie-Accessoires am Handgelenk des Jungen; die Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag der Bombardierung Guernicas mit der offiziellen Entschuldigung der Bundesregierung; die Talfahrt des Euro.

Nach dem Selbstmord seiner Mutter treiben Ottos Schuldgefühle ihn aus Anas Augen und Armen. Auf der Madrider Plaza Mayor verfehlen sich die beiden so spektakulär, daß man ihnen wie im Kasperletheater zurufen möchte: "Dreh dich um, Ana! – Sieh von deiner Zeitung auf, Otto!" Statt dessen wird Otto auf eine Stellenanzeige hin Pilot, und Ana trifft seinen ehemaligen Lehrer, zieht bei ihm ein und wird selber Lehrerin an ihrer alten Schule, in der Mädchen und Jungen inzwischen gemeinsam unterrichtet werden. Das Papierflugzeug, das ihr eines Tages in die Hände fällt, ist nur ein leeres Blatt.

In der Brüchigkeit selber liegt eine gewisse Kontinuität: Jede von Ottos zahlreichen Partnerinnen setzt genau an der Stelle ein, an der die vorherige aus dem Blickfeld verschwand. Anas Mutter hat Ottos Vater verlassen und lebt mit einem zweiten Alvaro, der sich als der Sohn des ursprünglichen Ottos erweist. Dieser ist "seit vielen Jahren kein Deutscher mehr", wie er sagt, sondern lebt in Finnland am Polarkreis. Und weil Ana und Otto schon als Kinder eine Faszination für das ewige Eis und die nicht untergehende Sonne verband, beschließt Ana, dorthin zu reisen, um auf den größten Zufall ihres Lebens zu warten – und ihn, wie immer, auch ein bißchen selbst herbeizuführen.


 
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