© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/00 03. November 2000

 
Pankraz,
K. H. Bohrer und das Leben in der Provinz

Geisteskämpfe unter falschem Vorzeichen: Unter dem Titel "Provinzialismus" hat Karl Heinz Bohrer im Münchner Hanser Verlag seine kritischen Betrachtungen aus der Zeitschrift Merkur gebündelt unter die Leute gebracht, grimmige, oft sarkastische Notate zum jüngsten deutschen Politik- und Kulturbetrieb, denen man gern beipflichtet. Aber wieso "Provinzialismus"? Was hat die Kleinkariertheit, Feigheit und Unempfindlichkeit unserer gegenwärtigen Politiker und Literaten mit "Provinz" zu tun? Hier wird ein Etikett verteilt, das nichts bezeichnet und nur Ratlosigkeit verbreitet.

Provinz in dem von Bohrer verwendeten Sinne, also Provinz als Antibegriff zu Haupstadt, Metropole, Weltläufigkeit, gibt es schon lange nicht mehr. Wenn Fernsehen in die hintersten Winkel reicht und jeder sich ans Internet anschließen kann, wenn in Nullkommanichts jeder beliebige Ort der zivilisierten Welt zu erreichen ist und viele Zeitgenossen während des Urlaubs auf fernsten Kontinenten herumsurfen, ist es völlig gleichgültig, ob man in einer "Metropole" oder auf dem "flachen Land" wohnt. Der Informationsstand ist potentiell der gleiche, die Chance, zu erhellenden Gesprächen und zu sich selbst zu kommen, ist auf dem "flachen Land" größer.

Übrigens war es, cum grano salis, in früheren Zeiten mit weniger Kommunikationstechnik kaum anders. In den Metropolen ballte sich nicht so sehr Kultur als vielmehr Geschwätz, zu dem Geistesgrößen, die auf sich hielten, stets Distanz bewahrten. Von Demokrit und Vergil über Montaigne und Voltaire bis hin zu Hemingway und Jean Giono zieht sich die Linie derer, die der Provinz als Lebensraum den Vorzug gaben. Gestalten wie Ovid in der Antike oder Solschenizyn in der Gegenwart, denen die Regierung den Aufenthalt in der Hauptstadt ausdrücklich verbot, hat die Provinz nicht geschadet, ihr Werk blieb durch sie unbeschädigt.

In Deutschland steht als oberster Provinzler Johann Wolfgang von Goethe unübertreffbar da. Er hat die damaligen Metropolen, London, Paris, Wien, nie gesehen; die "Hauptstadt der Christenheit", Rom, genügte ihm. In der aufkommenden Metropole Berlin war er nur ganz kurz und ungern, Freund Zelter lockte vergeblich. Goethe hatte die Devise: "Wo ich bin, da ist Hauptstadt", und die Zeitgenossen akzeptierten das und machten sich aus Paris oder von sonstwoher nach Weimar auf, um ihm zu huldigen und von ihm zu lernen.

Allgemein gilt wohl und galt schon immer: In der Metropole sitzen die Verwurster und Simplifikatoren, die große Einfälle in kleine Münze verwandeln. Das Geschäft ist nicht unbedingt ehrenrührig und macht den Beteiligten in der Regel viel Spaß, aber erste Klasse ist dazu nicht nötig, im Gegenteil, diese stört nur, weil ihr Erscheinen die Yuppies und Groupies einschüchtern könnte, so daß ihnen die flotten Sprüche im Halse stecken bleiben.

Die von Bohrer beklagte Mittelmäßigkeit der Politiker und Literaten, ihre insistierende Gleichmacherei und hinterhältige Gesinnungspolizei (PC), resultiert gerade aus der metropolitanen Zusammenballung. Man hockt zu eng aufeinander, läuft sich zu oft über den Weg, läßt sich zu schnell auf Kompromisse und Verabredungen ein. Gedanken, die zu früh in den metropolitanen Kreislauf eingeleitet werden, können nicht mehr ausreifen, werden zu schnell glattgeschliffen und zum Spielball eitler, selbstreferentieller "Diskurse".

Die Nähe zur Regierung mit ihren gewaltigen modernen Möglichkeiten zur Massenbeeinflussung schüchtert ein und macht abhängig, abhängig von Einladungen, "Hintergrundgesprächen", Tagesparolen, die mit dröhnender Aufdringlichkeit (und mit versteckter Drohung gegen Abweichler) serviert werden. Natürlich ist der Provinzler im Zeitalter der Medien denselben Tagesparolen und geistigen Zumutungen ausgesetzt, aber da er in der Regel unpolitischer lebt als der Hauptstädter, dichter am ganz normalen Lebensalltag mit seinen beruflichen Differenzierungen und spezifischen Schrullen, verfügt er über mehr Widerstandskraft, sieht genauer die "andere Seite", die transmediale Seite der Dinge.

So ist auch zu erklären, was Karl Heinz Bohrer in seinem Buch als große Eigenentdeckung verkauft: daß nämlich die heute von den Zeitgeistverwaltern verhöhnten fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts viel liberaler, durchlüfteter und produktiver waren als die von denselben Kräften hoch gepriesenen siebziger und achtziger. Es gab in den Fünfzigern einfach mehr voneinander abgehobene Quartiere, mehr Eigensinn, mehr genaue Erinnerung und Lokalbeobachtung, mit einem Wort: mehr Provinz.

Die Schließung der Horizonte in den Siebzigern und Achtzigern war, Bohrer zum Trotz, keine Provinzialisierung, sondern eine Entprovinzialisierung. Aber wenn derselbe Bohrer in einem Extrakapitel mit hübscher Ungeniertheit konstatiert, daß im Zuge der sogenannten "Europäisierung" Europas und vor allem Deutschlands die "Provinzialisierung" ihren Höhepunkt erreicht habe, und zwar in Form des "Europrovinzialismus", so kippt seine Argumentation um und beginnt endlich, sich bis zur Kenntlichkeit zu verändern.

"Europrovinzialismus" – das ist in der Auffassung von Bohrer (und auch in der von Pankraz) eine mittlerweile fast unerträglich gewordene Art von öffentlichem Stumpfsinn. In seinem Zeichen füllen sich die Reden der Politiker und die Spalten der Zeitungen mit Phrasen, die nicht das geringste mehr mit der Lebenswelt der Europäer und überhaupt mit ihrer Wirklichkeit zu tun haben, die nur noch bürokratische Regelungen und wichtigtuerische Politiker-Attitüden transportieren und jede "Idee" von Europa desavouieren.

Die Leute in der Provinz wenden sich mit Grausen. Die in den Metropolen brauchen etwas länger, aber dafür genießen sie das angenehme Privileg, von abgefeimten Kulturkritikern seltener als Provinzler abgestempelt zu werden.


 
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