© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/00 03. November 2000

 
LOCKERUNGSÜBUNGEN
Politikkomfort
Karl Heinzen

Der Deutsche Bundestag hat einer Änderung des Grundgesetzes zugestimmt, die es erlaubt, daß deutsche Staatsbürger an Internationale Strafgerichtshöfe oder EU-Partnerländer ausgeliefert werden können, wenn ihnen schwerwiegende Verstöße gegen das Völkerrecht zur Last gelegt werden. Da die Rechtsentwicklung sowohl auf diesem Gebiet als auch hinsichtlich der Interpretation elementarer Grundrechte in unserem Land einem steten und raschen Wandel unterzogen ist, wird es niemand ernsthaft ausschließen können, daß vielleicht schon in naher Zukunft deutsche Revanchisten, die verbotene historische Landkarten öffentlich zeigen, an unser dann zur EU gehörendes Nachbarland Polen überstellt werden, weil sie sich nach dortigem Rechtsverständnis möglicherweise zu einem Angriffskrieg verschworen haben.

Der Bund und die Länder haben gemeinsam mit dem Deutschen Städtetag sowie Wirtschafts- und Wissenschaftsverbänden eine "konzertierte Aktion" beschlossen, die die Zahl der ausländischen Studenten in den nächsten drei Jahren auf 350.000 verdoppeln soll. Da sich die Qualität von Forschung und Lehre in der Nachfrage nach Studienplätzen ausdrückt, soll das Niveau unserer Hochschulen bei gleichbleibendem Angebot auf diese Weise gesteigert werden. Zusätzlich gilt es, dem Einwand vorzubeugen, unsere Wirtschaft würde Headhunting nach Menschen betreiben, deren akademische Ausbildung die Bürger anderer Staaten finanzieren mußten.

Guido Westerwelle schließlich hat an das Verantwortungsgefühl der Politik appelliert und gefordert, sich noch vor der Bundestagswahl auf ein Einwanderungsgesetz zu verständigen. Anderenfalls könnte es schwer werden, diese Frage, obwohl sie im Kern längst entschieden ist, im Wahlkampf des Jahres 2002 auszuklammern.

Drei Impressionen aus einer Woche deutscher Politik, die Mut machen: Das Vertrauen in die Politik ist heute so ausgeprägt, daß wesentliche Weichenstellungen vorgenommen werden können, ohne die Bürger an der Willensbildung beteiligen zu müssen. Auch die Medien sind nicht mehr in der Pflicht, eine öffentliche Diskussion vorzutäuschen. Weder müssen sie sich zu jedem Problem einen eigenen Standpunkt abringen noch sich nach einem Käufer für einen solchen umsehen. Ihre Aufgabe in den möglicherweise strittigen Fragen unseres Zusammenlebens beschränkt sich mehr und mehr auf die Bekanntgabe von Vollzugsmeldungen. Dieser wachsende Politikkomfort steigert das Wohlbefinden aller.

Eine politische Ordnung wie die unsrige kommt nicht ohne Bürger aus, die bereitwillig das zu bejahen lernen, was sie offenkundig nicht mehr zu ändern vermögen. Dies war schon die Voraussetzung dafür, daß die Bundesrepublik Deutschland vor knapp einem halben Jahrhundert so schnell in die freie Völkergemeinschaft zurückfinden konnte – und dies läßt noch heute darauf vertrauen, daß eine Zukunftsgesellschaft entsteht, der die Rückkehr in eine deutsche Vergangenheit nicht mehr möglich sein wird.


 
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