© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/00 27. Oktober 2000

 
Vater des Genossenschaftswesens
Michael A. Kanther und Dietmar Petzina erinnern an den zu Unrecht vergessenen "Sozialkonservativen" Viktor Aimé Huber
Karlheinz Weißmann

Der Begriff "sozialkonservativ" ist doppeldeutig. Häufig wird er benutzt im Sinn von "an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen festhaltend" und hat dann einen pejorativen Beigeschmack, aber es gibt auch ein anderes Verständnis, das auf den "Sozialkonservatismus" als eine geistespolitische Strömung des 19. Jahrhunderts verweist, die man weder den übrigen Denkschulen des Konservatismus noch der christlich-sozialen Bewegung zuschlagen kann, obwohl sie mit beiden Berührungen hatte. Die Sozialkonservativen bildeten eine Sondergruppe der Konservativen, insofern sie zwar an bestimmten Grunddaten konservativer Weltanschauung festhielten – dem Royalismus, der Verteidigung der ständischen Ordnung, der Betonung von Tradition und organischer Staatsauffassung –, aber gleichzeitig die Realität der Industrialisierung anerkannten. Ihrer Vorstellung nach sollten die von Pauperisierung bedrohten Arbeiter als "vierter Stand" in die Gesellschaft eingegliedert werden. Wie das zu geschehen habe, war unter den Sozialkonservativen durchaus strittig. Die Lösungsmodelle reichten von der Idee eines "sozialen Königtums", die Lorenz von Stein vertrat, und den "kathedersozialistischen" Vorstellungen Hermann Wageners, die in der Bismarckschen Sozialgesetzgebung wenigstens eine teilweise Verwirklichung erfuhren, bis hin zu den ausdrücklich konservativ-sozialistischen Konzepten Wichard von Moellendorffs, eines nachgeborenen Repräsentanten dieser Strömung, der während des Ersten Weltkriegs zu den engsten Mitarbeitern Walter Rathenaus gehörte.

Von den genannten Konzepten unterschieden sich die Ideen Victor Aimé Hubers insofern, als er zwar wie Stein und Wagener der von den Liberalen und radikalen Linken geforderten "Emanzipation" der Arbeiterschaft skeptisch gegenüberstand, aber doch auf den erzieherischen Wert einer Anleitung zur Selbsthilfe hoffte.

Diese sollte bewerkstelligt werden durch Genossenschaften, in denen nicht nur der Konsum und das Sparen, sondern vor allem der gemeinschaftliche Erwerb sauberer und gesunder Häuser möglich sein werde. Neben Schulze-Delitzsch und Raiffeisen war Huber der dritte Vater des deutschen Genossenschaftswesens. Daß er fast völlig in Vergessenheit geraten konnte, hing nicht zuletzt mit dem weltanschaulichen Hintergrund seines Denkens zusammen. Seit dem Untergang der Monarchie schien es zu keiner Zeit opportun, an diesen Pionier des sozialen Wohnungsbaus zu erinnern. Um so dankenswerter ist der Entschluß des Bundesverbandes deutscher Wohnungsunternehmen, aus Anlaß des 200. Geburtstags die nun vorliegende Biographie Hubers in Auftrag zu geben.

In der Arbeit von Michael A. Kanther und Dietmar Petzina werden der Lebensweg und die Vorstellungswelt Hubers sehr knapp, aber deutlich herausgearbeitet. Der Bogen reicht von den etwas ziellosen Kinder- und Jugendjahren über die zahlreichen Reisen Hubers – er beherrschte mehrere Fremdsprachen – bis zu seinen verschiedenen beruflichen Tätigkeiten, der ursprünglich Medizin studiert hatte, aber kein Examen vorweisen konnte, als Lehrer begann, um schließlich eine Professur für neuere Geschichte und Literatur in Rostock, dann in Marburg und schließlich in Berlin anzunehmen. Der Ruf nach Berlin hing damit zusammen, daß sich die preußische Regierung in den 1840er Jahren unter dem neuen König Friedrich Wilhelm IV. von Huber eine ebenso nachhaltige wie kluge Agitation gegen den wachsenden liberalen Einfluß versprach. Huber, der in früheren Jahren selbst mit dem Liberalismus geliebäugelt hatte, war unter dem Eindruck der Verelendung des Proletariats in England zu dem Schluß gekommen, daß das laissez-faire und der Parlamentarismus letztlich nur dem kapitalbesitzenden Bürgertum die Macht in die Hand spielten und alle Reste sozialer Verpflichtung zerstörten, wie sie der Adel wenigstens dem Prinzip nach gegenüber seinen Leuten gehabt hatte. Ähnlich wie Johann Hinrich Wichern, dessen "Innere Mission" fast zeitgleich ins Leben gerufen wurde, glaubte Huber, daß man den Monarchen und die alten Eliten in die Pflicht nehmen müsse, während gleichzeitig die Arbeiter durch die Schaffung der erwähnten Genossenschaften mit staatlicher Unterstützung von ihrem Elend befreit werden sollten.

Huber setzte den Akzent sehr stark auf die Praxis und hat keine ausgearbeitete Theorie hinterlassen. Um so tragischer wirkt, daß seine Bemühungen weitgehend erfolglos blieben, obwohl er immer wieder entscheidende Anstöße geben konnte, etwa bei der Organisation des sozialen Wohnungsbaus in Berlin. Die Resignation, die das letzte Drittel seines Lebens überschattete, dürfte aber der Verlauf der Revolution von 1848 ausgelöst haben. Er mißbilligte nicht nur die Einführung der konstitutionellen Verfassung in Preußen, er sah auch mit Verbitterung die Feigheit des Königs, dem seine – konservativen – Prinzipien offensichtlich wenig wert waren. Huber, der der sogenannten Kreuzzeitungs-Partei nahestand, fand überhaupt keinen Zugang zu einem konservativen Realismus, wie ihn Friedrich Julius Stahl damals anbahnte. Obwohl er ein sehr waches Organ für die sozialen Folgen der Industrialisierung besaß – er hielt wohl die ersten Lehrveranstaltungen über die "soziale Frage" –, lag ihm doch daran, den überlieferten Aufbau der Gesellschaft unter den gewandelten Umständen vollständig zu erhalten.

1852 legte Huber sein Lehramt nieder und verließ Berlin, um sich in das kleine Harzstädtchen Wernigerode zurückzuziehen. Eineinhalb Jahrzehnte verbrachte er dort, weiterhin reisend und in kleinem Rahmen seine Projekte verfolgend. Huber starb 1869, sein Grab hat sich auf dem Friedhof des kleinen Dorfes Nöschenrode, das vor einiger Zeit Wernigerode zugeschlagen wurde, erhalten.

Kanther und Petzina bieten mit ihrer Arbeit über Victor Aimé Huber eine wichtige Erinnerung an einen zu Unrecht Vergessenen. Die Darstellung zeugt von Sympathie für den Gegenstand, auch wenn man sich der Kriterien nicht ganz sicher ist: die Unterscheidung zwischen "wertkonservativ" und "strukturkonservativ" wirkt jedenfalls wie eine wissenschaftliche Notlösung. Erfrischend dagegen die unverkrampfte Präsentation Thomas Carlyles, der sich ohne jede Invektive als weitsichtiger Gesellschaftskritiker gewürdigt findet.

 

Michael A. Kanther und Dietmar Petzina: Victor Aimé Huber (1800–1869). So-zialreformer und Wegbereiter der sozialen Wohnungswirtschaft, Duncker&Humblot, Berlin 2000, kt., 202 Seiten, 68 Mark


 
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