© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/00 27. Oktober 2000

 
Das Lebensrecht sollte Vorrang haben
Schwangerschaftsberatung: Abtreibungsgegner geraten im Zwiespalt zwischen Rechtspositionen und Moral oft in ein Dilemma
Björn Schumacher

Politische Ziele lassen sich in einer repräsentativen Demokratie nur mit Hilfe einer einflußreichen Lobby realisieren. Ins Blickfeld rückt die Frage, welche Institutionen für das Lebensrecht ungeborener Kinder eintreten. Wie andere christliche Konfessionen weiß auch die evangelische Kirche sich dem Tötungsverbot des Dekalogs und seinen Interpretationen durch das Evangelium verpflichtet. Nicht alle Theologen und Laien leiten daraus aber ein prinzipielles Abtreibungsverbot her. Das entspricht in etwa der weltanschaulichen Fächerung des deutschen Protestantismus in wertkonservativ-traditionelle und progressiv-emanzipatorische Positionen.

"Sagt der biologische Lebensbeginn allein etwas Gültiges über den Beginn des Menschen aus?" fragt die frühere EKD-Synodale Liselotte Funcke, in den siebziger Jahren als Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages die prominenteste Kämpferin für eine reine Fristenregelung (ohne integriertes Beratungskonzept). Die von ihr vertretene Variante der protestantischen Ethik zeigt das intellektuelle Antlitz jenes aggressiven Feminismus, der unter dem trivial- einfältigen Motto "Mein Bauch gehört mir" jahrzehntelang jeden rationalen Ethik-Diskurs zum Lebensrecht abwürgen wollte. Zugleich korrespondiert Frau Funckes Konzept mit einer weit verbreiteten Weltanschauung, die – vielfach unter dem Etikett des ethischen Utilitarismus – nicht die individualisierende Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, sondern das Einsetzen meßbarer Hirnaktivität, die extrauterine Lebensfähigkeit oder gar den Beginn von "Autonomie", "Personalität" bzw. "Uberlebensinteresse" des Embryos zur Grundlage des Lebensrechts machen will.

Die praktischen Folgen derart spitzfindiger Moraltheorie liegen auf der Hand. Sie betreffen beispielsweise die "ergebnisoffene" Beratung nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG). Wer keine klaren ethischen Prinzipien kennt, wird meist das "eigenverantwortliche Gewissen" der Schwangeren als Richtschnur sittlichen Verhaltens empfehlen. Dies mag speziell für Beraterinnen gelten, die – irritiert von der ambivalenten Haltung der evangelischen Theologie gegenüber dem Gewissensbegriff – die unabweisbaren Fragen nach Möglichkeit und Ursache eines "irrenden Gewissens" gar nicht stellen. Resultat: "Autonome Gewissensentscheidungen" schwangerer Frauen verletzen Lebensrecht wie auch Menschenwürde wehrloser Ungeborener.

Im Unterschied zur evangelischen hat die katholische Kirche nie einen Zweifel an ihrer moraltheologischen Ablehnung aller Schwangerschaftsabbrüche gelassen. Dennoch geriet die Abtreibungsfrage zu einer schweren innerkirchlichen Zerreißprobe. Bewirkt hat das jene Fristenlösung mit eingebautem Beratungskonzept, die 1995 unter dem Eindruck zweier Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zustande gekommen war. Stein bzw. "Schein des Anstoßes" wurde die bislang auch in katholischen Beratungsstellen (Ausnahme Diözese Fulda) ausgegebene Beratungsbescheinigung, mit der die Schwangere einen zwar rechtswidrigen, gleichwohl aber straffreien Abbruch durchführen kann (§ 218 a Abs. 1 StGB). Als wichtigste katholische Befürworterin des "Scheinkonzepts" profilierte sich bis zum Sommer 1999 die deutsche Bischofskonferenz. Sie betonte stets den lebensschützenden Effekt der Beratungsbescheinigung. Gerade die Aussicht auf diese "Tötungslizenz", so die Mehrheit der Bischöfe, locke unentschlossene oder zunächst abtreibungswillige, aber noch beeinflußbare Frauen in katholische Beratungsstellen und rette dadurch mittelbar das Leben nicht weniger Ungeborener.

Demgegenüber stellte Papst Johannes Paul II. in eindringlichen Briefen heraus, daß die Scheinvergabe bei philosophischer und theologischer Kausalitätsbetrachtung einen nicht unmaßgeblichen Beitrag zu einer anschließenden Abtreibung durch die beratene Frau leiste. Er mahnte seine bischöflichen Amtsbrüder, alles zu unterlassen, was das klare Zeugnis der Kirche für unbedingten Lebensschutz "verdunkeln" könne. Seine Worte beruhten wohl auch auf der Sorge, eine fortgesetzte Scheinvergabe könne den Werteverfall beschleunigen und in letzter Konsequenz – wenngleich statistisch nie konkret meßbar – die Abtreibungsrate sogar noch emporschnellen lassen. Der Ausgang des zähen Ringens ist bekannt. Selbstverständlich werden die katholischen Beratungsstellen auch weiterhin schwangeren Frauen in Not beistehen, spätestens mit Ablauf dieses Jahres aber keine Bescheinigungen mehr ausstellen. Die "Scheinberatung" will möglichst flächendeckend der von katholischen Laien gegründete Verein "Donum Vitae" übernehmen – allerdings ohne die nach kirchlichem Recht unzulässige Bezeichnung "katholisch". Welches dieser beiden Modelle auf Dauer effektiver sein wird, bleibt abzuwarten.

Immerhin signalisieren die Erfahrungen mit "scheinfreier Konfliktberatung" im Bistum Fulda und bei dem nicht konfessionell gebundenen Heidelberger Verein "Die Birke", daß abtreibungswillige Frauen auch ohne Aussicht auf die "Tötungslizenz" qualifizierte Beratungsstellen aufsuchen und einen ernsthaften Dialog über ihre Situation annehmen, an dessen Ende durchaus die Fortsetzung der Schwangerschaft stehen kann. Auch im Interesse der von schlimmen postabortiven Depressionen bedrohten Frauen könnte eine solche Entwicklung nur begrüßt werden.

Das Verhalten der deutschen Bischöfe verweist auf ein grundsätzliches ethisches Dilemma: Wie intensiv darf eine Institution von unbestreitbarer moralischer Autorität mit einem Gemeinwesen kooperieren, das beispielsweise "ergebnisoffene" Konfliktberatung vorschreibt, großzügige Krankenkassen- und sonstige Sozialleistungen für die allermeisten Schwangerschaftsabbrüche gewährt, rechtswidrige Abtreibungen sogar in staatlichen Kliniken zuläßt sowie die Tötungspille Mifegyne freigegeben hat? Dieses Dilemma berührt zahlreiche Aspekte des Verhältnisses Kirche/Staat und damit zwangsläufig Kernbereiche kirchlichen Selbstverständnisses.

Eine kleine, aber eher wachsende Zahl von Abtreibungsgegnern bekämpft das staatlich geduldete bzw. geförderte System des Schwangerschaftsabbruchs durch spektakuläre politische Aktionen: etwa mit Demonstrationen und Flugblättern gegen Abtreibungskliniken und die dort tätigen Mediziner. In ihrer berechtigten Empörung – zuweilen gekleidet in unbedachte Worte – geraten sie nicht selten in das Visier der Justiz. Markantes Beispiel ist ein Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 6. September 1999 (Az.: 1 BvR 1204/99). Die Richter bestätigten die Geldstrafe für einen Nürnberger Abtreibungsgegner, der einen Frauenarzt des dortigen Klinikums Nord als "Berufskiller" tituliert hatte. Ihr Beschluß setzt gleich in doppelter Hinsicht ärgerliche Signale, die weit in den rechtspolitischen Raum hineinstrahlen. Das erste erwächst aus dem Vergleich mit früheren Entscheidungen zum Abtreibungsrecht (BVerf GE 39, 1 ff. vom 25.02.1975 und BVerf GE 88, 203 ff. vom 28.05.1993). Hatte das Verfassungsgericht indikationslose sowie sozial indizierte Aborte damals als "rechtswidrig" klassifiziert, so spricht es jetzt nur von "vermeintlichem Unrecht". Für diese Relativierung eines klaren Unwerturteils gibt es keinen zwingenden Grund. Zwar bleiben seit der Gesetzesreform vom 21. August 1995 "beratene Schwangerschaftsabbrüche" innerhalb von zwölf Wochen nach der Empfängnis straffrei, bei problemadäquater Auslegung des neuen Paragraphen 218 a Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) trotzdem aber rechtswidrig. Bedrückende Erkenntnis: Die ethische Dimension der Tötung ungeborener Menschen hat in Karlsruhe offenbar an Stellenwert verloren.

Das zweite Signal betrifft den Vergleich mit dem "Soldatenurteil" (BVerf GE 93, 266 ff. vom 10.10.1995), der letzten Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum dialektischen Verhältnis zwischen dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und den Bestimmungen zum Schutz der persönlichen Ehre. Während das Gericht in der plumpen Verunglimpfung "Soldaten sind Mörder" einen "Sachbezug", also einen ernsthaften Beitrag zur ethischen Debatte über Krieg und Frieden sieht ("keine Schmähkritik"), ignoriert es den "Sachbezug" bei der eher harmloseren Attacke des Nürnberger Lebensschützers. Die bislang nur vereinzelt gestellte Frage, ob derbe Meinungsäußerungen "linker" Pazifisten der deutschen Justiz schutzwürdiger erscheinen als vergleichbare Deklamationen "rechter" Abtreibungsgegner, bietet sich für eine vertiefende empirische Studie geradezu an.

Mehr Resonanz als einzelne Abtreibungsgegner finden die Aktivitäten organisierter Lebensschützer. Sie bevorzugen meist die Rechtsform des eingetragenen Vereins, bilden Zusammenschlüsse innerhalb etablierter politischer Parteien (Christdemokraten für das Leben, Liberaler Gesprächskreis Lebensrecht), organisieren sich weitgehend berufsständisch (Juristenvereinigung Lebensrecht, Ärzte für das Leben) oder öffnen sich für alle Bürger, denen die Bekämpfung von Abtreibungsmentalität und "Kultur des Todes" am Herzen liegt (Aktion Lebensrecht für Alle, Kooperative Arbeit Leben Ehrfürchtig Bewahren – KALEB, Stiftung Ja zum Leben). Die Aktivitäten aller dieser Gruppen, regelmäßig von hohem zeitlichem Aufwand begleitet, sind ein kostbarer Bestandteil der politischen Kultur unseres Landes. So liefern JVL und "Ärzte für das Leben" auf Fachtagungen sowie in ihren Zeitschriften und Schriftreihen wissenschaftliche Beiträge zu fast allen Facetten der Abtreibungsfrage. So decken ALfA, in deren Vierteljahreszeitschrift (Lebensforum) auch namhafte Schauspielerinnen wie Uschi Glas und Barbara Wussow ihre Stimme erheben, und KALEB ein besonders breites theoretisches wie praktisches Spektrum ab. Sie beraten ("scheinfrei") und unterstützen schwangere Frauen in Not, engagieren sich gegen die Tötungspille Mifegyne, klären umfassend über das postabortive Syndrom auf und erreichen mit ihren Informationsständen in Stadtzentren sowie bei Kirchentagen mittlerweile einen beachtlichen Teil der Öffentlichkeit. Ein womöglich noch lebhafteres Echo hat die "Stiftung Ja zum Leben" mit ihrer aktuellen Kampagne "Tim lebt" gegen Spätabtreibungen ausgelöst (gemäß § 218 a Abs. 2 StGB darf das Kind bei mutmaßlicher Behinderung bis zu seiner Geburt abgetrieben werden).

In das Lob für die deutschen Lebensschützer mischt sich freilich auch Kritik. So gehen einige Gruppen mit "Abweichlern" in den eigenen Reihen nicht gerade zimperlich um. Das bekamen zuletzt Abtreibungsgegner zu spüren, die eine Fristenlösung mit Beratungspflicht nicht grundsätzlich ablehnen. Derlei Härte mag den kompromißlosen Dogmatiker erfreuen, die Akzeptanz der Lebensrechtsbewegung wird dadurch aber empfindlich gestört. Lebensschützer, die in der öffentlichen Wahrnehmung auf das Format exklusiver, sich gegenseitig bekämpfender Minderheiten schrumpfen, werden zu einer spürbaren Senkung der Abtreibungsrate kaum etwas beitragen können.

So wichtig die strafrechtlichen Sanktionsdrohungen auch sind, allemal bedeutsamer wäre jener Bewußtseins- und Wertewandel, den auch ein noch so repressives Strafrecht nur unvollkommen herbeiführen kann. Die Tötung ungeborenen Lebens muß eine entschiedene gesellschaftliche Ächtung erfahren. Immerhin dürfte die Sensibilität für das ungeborene Leben in den letzten Jahren gestiegen sein. Vulgärfeministische Thesen vom Schlage der "Mein-Bauch-gehört-mir"-Doktrin verlieren zusehends an bewußtseinsbildender Kraft. Dieser wenigstens partiell ermutigende Befund ließe sich weiter bessern, wenn unter Mithilfe beider großer Kirchen ein innovatives Gesamtprogramm zum Lebensschutz entstehen könnte, das breiten Konsens ermöglicht und auch junge Menschen ansprecht. Die deutsche Lebensrechtsbewegung braucht Elan, Kreativität und den unerschütterlichen Willen, einer wachsenden Zahl von Anhängern über gewisse dogmatische Differenzen hinweg zur geistig-moralischen Heimat zu werden. Daß der engagierte Kampf gegen Abtreibung keinesfalls immer nur begrenzte Wirkung entfaltet, beweist eindrucksvoll eine Massenbewegung wie das US-amerikanische Pro-Life-Movement.


 
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