© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/00 27. Oktober 2000

 
Kolumne
Realitätsfremd
von Klaus Motschmann

Was würde man davon halten, wenn zur Behebung der Welthungersnot ein wissenschaftliches Projekt zur landwirtschaftlichen Nutzung der Antarktis entwickelt und mit Milliardenbeträgen finanziert würde? An wichtigen neuen Erkenntnissen für Geologie und Meteorologie, Botanik und Zoologie würde es nach einer gewissen Zeit bestimmt nicht fehlen, was als Bestätigung dieses Vorhabens gefeiert, die Fortsetzung aktivieren und neue Hoffnungen wecken würde. Nur: das eigentliche Forschungs- und Entwicklungsprojekt, die Erschließung großer landwirtschaftlicher Nutzflächen, würde durch noch so wichtige wissenschaftliche Teilergebnisse nicht vorankommen. Nicht nur dies! Die Welthungersnot würde sich vergrößern, weil die Milliarden-Investitionen für dieses Projekt an den Stellen fehlen würde, an denen eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion ohne weiteres möglich wäre.

So absurd, wie dieses Beispiel anmutet, ist es nach kurzer Überlegung nicht. Es veranschaulicht das Unvermögen aller Ideologen, die Wirklichkeit zu erfassen und den konkreten Menschen zu verstehen. Wer aber die Menschen nicht versteht, kann auch keine menschlichen Lösungen finden, sondern immer nur ideologische Modelle zu verwirklichen suchen.

Gerhard Szczesny, einer der prominenten Linksintellektuellen der sechziger Jahre, der sich aber die Fähigkeit zu eigenständigem Denken bewahren konnte, hat dazu in seinem Buch "Das sogenannte Gute" (1971) bemerkt: "Die Geschichte des Abendlandes ist gekennzeichnet vom Wirken eines realitätsfremd oder realitätsfeindlich eingestellten Geistes, der, in sich selbst befangen, utopischen Welt- und Gesellschaftsmodellen nachjagt. Und dieses faszinierende Reich der Ideen gewinnt überhaupt erst seinen vollen Glanz, wenn man von vornherein darauf verzichtet, es mit der Realität – oder doch der derzeitigen Realität – in irgendeine andere als negative Verbindung zu bringen. Von nun an scheint das Ausdenken von perfekten Modellen nicht nur geistreicher, sondern auch moralischer zu sein als die Beschäftigung mit einer solche Modelle ständig verhindernden Wirklichkeit. Die Fähigkeit, Unmögliches denken zu können, verdrängt die Bereitschaft, Mögliches zu tun."

Dabei ist es bis heute geblieben. Von der Bereitschaft, wichtige politische Entscheidungen an den wirklichen Bedürfnissen bzw. Erwartungen unseres Volkes zu orientieren, ist immer weniger zu erkennen, um nicht den Verdacht des Populismus auf sich zu ziehen. Bert Brecht hatte schon recht: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus – doch wo geht sie hin?"

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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