© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/00 20. Oktober 2000

 
Wir relativieren, lösen auf, entkrampfen und entpflichten
Frank Böckelmann: Die Emanzipation ins Leere. Beiträge zur Gesinnungsgeschichte zwischen 1960 und 2000
Werner Olles

Frank Böckelmann, 1941 in Dresden geboren, gehörte neben Dieter Kunzelmann, Rudi Dutschke, Herbert Nagel, Bernd Rabehl und Günter Maschke zur "Paria-Elite" der Subversiven Aktion, war Protagonist im SDS und sucht heute im Trümmerfeld der 68er-Bewegung – die ja eigentlich eine 67er-Bewegung war – nach Bausteinen für eine differenzierte Bilanz bei der Rückschau jener Bewegung und der Kritischen Theorie. Dabei spürt er sowohl den Gründen ihres Scheiterns nach, leistet jedoch auch einen gewichtigen Beitrag gegen die opportunistische "Zerstörung der Vergangenheit", der einer Einführung in Politische Theorie gleichkommt.

Daß sich vom Elementarsten – von der nicht stattgefundenen Revolution –nur über Umwege und Verschlingungen erzählen läßt, versteht sich von selbst, denn längst ist die Entwertung der Erscheinungswelt innerhalb der Dingwelt selbst durch die Ware überboten. Das letzte Ding, das seine triumphale Aufnahme in die Warenwelt des liberal-kapitalistischen Systems feierte, war der Körper des sogenannten Revolutionärs. Die globalen Gepflogenheiten von Kauf und Verkauf dieser Ware, die Arabesken der Kursdotierungen, kaschieren sich als Herrschaft des Tauschwertes mit dem Gebrauchswert. Einzig das Überleben geschieht nebenbei.

"Die Emanzipation ins Leere" ist die zweite, veränderte Auflage von "Begriffe versenken" (Bodenheim, 1997). Der Untertitel "Beiträge zur Gesinnungsgeschichte 1960–2000" weist dabei erhellend den Weg: "Seit 1968 haben wir keine neuen sozialen Ordnungen geschaffen. Keine Familienform, keine Formen größerer Gemeinschaft. Wir relativieren, lösen auf, entkrampfen und entpflichten und sind dann am Ende unserer Emanzipation angelangt, bis wir glücklich weitere Zwänge aufspüren, die uns einengen. Das Single-Dasein, die Interimsbeziehung und der Workshop am Wochenende sind keine neuen Realitäten, sondern Realitätsversuche." Realitätsverweigerungen, möchte man korrigierend hinzufügen, aber Böckelmann geht noch einen Schritt weiter: "Wir zehren vom Alten. Vom Gesicht der Landschaft, von der Entfernung von Berlin und Rom, von unbelehrbarer Treue, vom Eigensinn der Körper, von der Sprache, den alten Meistern, den Familiennamen, dem Unbewußten, der bayrischen Volksmusik."

Böckelmann definiert unsere Gesellschaft als "ein Ereignis der Aufklärung, aber keine Folge der Aufklärung und des Bewußtwerdens". Die Aufklärung hat sich jedoch – und dies nicht erst seit heute – längst als "Teil des Problems" erwiesen, allein die Krisentheoretiker der Linken haben als nützliche Idioten des Kapitalismus diesen Sachverhalt noch nicht bemerkt. Immer noch suchen sie fieberhaft nach den gesamtgesellschaftlichen Widersprüchen, mit denen sie ja immerhin ihre eigene politische Existenz begründen, verstehen aber nicht, daß das System von diesen Widersprüchen ganz ausgezeichnet lebt, ja, daß diese sozusagen die Geschäftsgrundlage des Kapitalismus sind. Tatsächlich hat das System das Geheimnis der ewigen Stabilität entdeckt. Darüber ist der Dialektik gewissermaßen "Hören und Sehen vergangen", steht sie doch diesem in seiner ganzen Totalität geradezu ohnmächtig gegenüber. Ein schönes Beispiel dafür ist die Frauenbewegung, die das Patriarchat auflösen wollte, aber nicht realisierte, daß dieses schon am Ende war, bevor die Ideologie des Feminismus überhaupt geboren wurde. Als Ergebnis dieser Bemühungen haben "Frauen heute einen öffentlichen Bonus und Männer einen entsprechenden Malus", aber die "Glorifizierung des Weiblichen" gilt keineswegs den Müttern, die sie eigentlich verdienten, sondern allein den kinderlosen Karrierefrauen. Und um das Maß an Irrsinn vollzumachen, wirft ein völlig entfesselter Neo-Feminismus den Männern vor, daß sie nicht einsichtig seien: "Man stelle sich vor, Marx hätte es den Kapitalisten übelgenommen, daß sie sich nicht expropriieren ließen ..."

Entgegen der Auffassung einer volkspädagogisch inspirierten Publizistik, die Integration der fremdländischen Zuwanderer sei gleichbedeutend mit friedlichem Zusammenleben und kultureller Vervielfältigung, sieht Böckelmann eine zunehmende Dramatisierung des Terrains und seiner Grenzen. Trotz weniger Rassismus und trotz Kommunikationszeitalter gäbe es heute in den USA beispielsweise weniger Mischehen und weniger Kontakte unter den Minderheiten als in der Vergangenheit. Schließlich könne der Mensch immer nur eines sein: Kosmopolit oder Parteigänger der Regionalmacht und ihrer Kultur, Teilhaber der corporate identity seiner Firma oder intolerantes Clanmitglied. Wenn man eines sei, werde das andere gleichgültig: "Vielfalt in Abwesenheit." Da bleibt den Aufklärerern noch viel zu tun!

 

Frank Böckelmann: Die Emanzipation ins Leere. Beiträge zur Gesinnungsgeschichte 1960–2000. PHILO Verlagsges., Berlin, Wien, 2000. 346 S., kart., 48 Mark


 
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