© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/00 20. Oktober 2000

 
Weg in die Moderne
Ex-Botschafter Seitz über die Weltmacht China
Michael Wiesberg

Konrad Seitz, bis 1999 deutscher Botschafter in China, hat 1998 ein Buch mit dem Titel "Wettlauf ins 21. Jahrhundert. Die Zukunft Europas zwischen Amerika und Asien" (Siedler Verlag) veröffentlicht, das sich mit den verschiedenen Spielarten des Kapitalismus beschäftigt. Seitz arbeitet in diesem Buch insgesamt fünf unterschiedliche Ausprägungen des Kapitalismus heraus: die neoliberale angelsächsische Wirtschaftsform, die deutsche soziale Marktwirtschaft, den "kooperativen" japanischen Kapitalismus, die korporativ-staatswirtschaftliche Ausprägung der Tigerstaaten und die "sozialistische Marktwirtschaft", wie sie sich in China entwickelt hat. Letztere nimmt einen erheblichen Anteil in Seitz’ neuem Buch "China. Eine Weltmacht kehrt zurück" ein.

Dieser Titel zeigt bereits an, daß sich Seitz nicht mit einer Beschreibung des modernen Chinas begnügt, sondern einen großen geschichtlichen Bogen schlägt, der vom Mittelalter bis in die Gegenwart reicht. Darüber hinaus wagt Seitz einen Ausblick auf zukünftige Entwicklungen. 2020, so Seitz, könnte China das Sozialprodukt der USA überholt haben, was bedeutet, daß China auf dem Weg ist, zur größten Volkswirtschaft der Welt zu werden. Diesen Weg hätte China schon einmal nehmen können: in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, als China über eine beeindruckende Hochseeflotte verfügte, für die selbst europäische Häfen nicht mehr außer Reichweite zu sein schienen. Seitz wörtlich: "Die Welthegemonie schien zum Greifen nahe. Doch da geschah das – für europäisches Denken – Unfaßbare: China brach die Hochseeschiffahrt ab und zog sich auf sich selbst zurück." China kehrte zur konfuzianischen Lehre zurück, die die Landwirtschaft als einzige Quelle des Reichtums behauptete. Händler galten als "Parasiten", Außenhandel wurde als verderblich für die Sitten interpretiert. Dieser transportiere fremde Ideen ins Land, die die soziale Harmonie störten.

Es begann die Zeit des langsamen Abstiegs Chinas und des Aufstiegs der europäischen Großmächte, die im 19. Jahrhundert die wirtschaftliche Öffnung Chinas gewaltsam herbeiführten. Die folgende Phase der nationalen Depression Chinas, für die Stichworte wie "Opiumkrieg" oder "Boxeraufstand" stehen, wurde mit der Machtübernahme Mao Tse-tung im Jahre 1949 beendet.

Die 27jährige Herrschaft Mao Tse-tungs über China hatte verhängnisvolle Konsequenzen für China. Etwa 60 Millionen Chinesen verloren bei den Sozialexperimenten unter Mao Tse-tung ihr Leben. China setzte mit Blick auf die demütigenden Erfahrungen in der Phase des "Imperialismus" wieder auf Isolationismus. Die chinesischen Kommunisten glaubten sich auf diese Art und Weise gegen ausländische Infiltration schützen zu können. Die ökonomische Bilanz der Ära Mao Tse-tung fiel entsprechend verheerend aus: "Maos Nachfolger erbten also einen industriellen Kapitalstock, der ungleich weniger wert war, als sein Aufbau gekostet hatte." Die alte konfuzianische Kultur Chinas und der Glaube an den Kommunismus wurden unter Mao nach Seitz’ Worten "zerstört". Genau deshalb aber, so Seitz, konnte China nach den Tode Maos einen so atemberaubenden wirtschaftlichen Aufschwung nehmen. Dieser beseitigte durch seine "tabula-rasa-Politik" alle gesellschaftlichen Barrieren für die wirtschaftliche Entfaltung des Riesenreichs. Mao hatte ein wirklich "weißes Blatt" hinterlassen, "auf das Deng Xiaoping (Mao Tse-tungs Nachfolger; d. V.) Strich für Strich die Konstruktionszeichnung einer Marktwirtschaft auftragen konnte".

Unter Deng Xiaoping (1978–1997) hat das begonnen, was Seitz als "Geburt des neuen Chinas" beschreibt. Das chinesische Wirtschaftswunder der achtziger und frühen neunziger Jahre war freilich nicht zuvorderst das Ergebnis einer industriellen Aufholjagd, sondern vor allem das Werk der Bauern und ländlichen Kader. Zunächst brach die Agrarindustrie sämtliche Rekorde. Dann übernahmen die ländlichen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen die Stafette. Seitz: "Die zweistelligen Wachstumsraten Chinas, die die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zogen, waren vor allem Wachstumsraten der ländlichen Unternehmen."

Die rasante Entwicklung Chinas zur "sozialistischen Marktwirtschaft" konnte und kann nicht ohne Brüche vonstatten gehen: China sieht sich zunehmend mit Phänomenen konfrontiert, die mehr und mehr auch das Primat der Kommunistischen Partei in Frage stellen. Steigende Arbeitslosigkeit bei fehlender sozialer Absicherung, Korruption, zunehmende soziale Ungleichheit und ineffiziente Staatsbetriebe seien hier nur als Stichworte genannt. Dazu kommt die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tianammen-Platz im Juni 1989, der Studenten und einfache Arbeiter zum Opfer fielen.

Mit dem bevorstehenden Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO und der Neuregelung des Handels mit den USA hat sich China inzwischen endgültig vom Autarkismus der Mao-Ära verabschiedet. Weiter denn je werden sich die nationalen Märkte dem Ausland gegenüber öffnen. China wird sich dann weiteren gesellschaftlichen Spannungen gegenübersehen, da durch diese Liberalisierung Millionen von Chinesen ihre Arbeitsplätze verlieren werden.

Parteichef Jiang Zemin und Ministerpräsident Zhu Rongji scheinen dies alles in Kauf nehmen zu wollen. Sie setzen darauf, daß steigende wirtschaftliche Macht auch steigende politische Macht bedeutet. Geht diese Rechnung auf, und Seitz’ überaus fundierte und in jeder Hinsicht lesenswerte Darstellung des chinesischen Weges in den Moderne läßt keinen Zweifel daran, wird China zum großen Gegenspieler der USA im 21. Jahrhundert werden. Michael wiesberg

 

Konrad Seitz: China. Eine Weltmacht kehrt zurück. Siedler Verlag, Berlin 2000, geb., 447 Seiten, 49,90 Mark


 
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