© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/00 20. Oktober 2000

 
Die Schranken des Individualismus aufgehoben
Über die Mühen der Ebene: Ein Bericht aus dem Alltag der lutherischen Kirche in Rußland
Gottfried Spieth

Ich arbeite nun ein Jahr als evangelischer Pfarrer in Rußland. Ende September 1999 bin ich dort angekommen nach der längsten Autofahrt meines Lebens, die in Leipzig begann und am Ural endete. Der Idealist und Aufbauhelfer Dr. Schlöffel hat mich in seinem Landrover mitgenommen, zunächst über das Erzgebirge nach Böhmen; eine schwungvolle Landschaft ist das, am Horizont kegelförmige Berge, die scharfkantig ihr Profil ins Abendrot hinein zeichnen; dann hinüber in die hohe Tatra, durch tief eingeschnittene Flußtäler und weißen Nebel im Morgenlicht. In der Hochebene ragt ein einsamer Berg mit einer Wallfahrtskirche empor. Überreste des untergegangenen Habsburger-Reiches künden vom Zauber des Barock. Das Abenteuer nimmt seinen Lauf. Verwinkelt und holperig die Straßen, auf denen wir die Karpato-Ukraine durchfahren, eine wilde Berglandschaft; über Stock und Stein geht es unerbittlich vorwärts. Immer wieder diese verwunschenen Ortschaften, es ist wie im Märchen. Die Zeit scheint stillzustehen – doch am Straßenverkehr nimmt alles teil, was Beine oder Räder hat, fährt und geht, kreucht und fleucht: Menschen und deren Fahrzeuge, Hühner, Schafe, Kühe. Dazwischen rattert der Pferdewagen.

Dann kommen weite Ebenen. Immer weniger katholische Kapellen, statt dessen immer selbstbewußter die orthodoxen Zwiebeltürme. Wir überwinden die Trennlinie zwischenOst und West. In Kiew ein Szenenwechsel: hell erleuchtete Boulevards, großzügige Straßenführung und Neubausiedlungen. Diese Architektur erzählt vom sozialistischen Aufbauwillen, der längst vergangen ist. Über Charkow erreichen wir die russische Grenze bei Belgorod. Die Grenzübertritte sind jedesmal eine Prozedur. Ich ziehe den schwarzen Anzug an und meinen weißen Collar-Kragen. Und in der Tat: als sie mich in voller Montur sehen, verlieren die Zöllner ihr Mißtrauen und lassen uns passieren. Auf den russischen Straßen wartet neues Ungemach. Jede Stadt hat ihre Kontrollposten und wir werden oft von der Miliz angehalten. Man will die Ausländer abzocken und wir haben das Pech, mit deutschem Kennzeichen unterwegs zu sein. Gegen solche Schikanen hilft auch mein geistliches Gewand nicht. Umso mehr legt sich mein Kollege ins Zeug. Schlagfertig bringt er es meistens fertig , daß wir ungeschoren davonkommen. Manchmal hat auch eine Dose Bier nachgeholfen.

Die Reise zieht sich in die Länge. Kaum eine Abwechslung auf Hunderten von Kilometern. Es ist Samstagnacht, als wir in Prischib ankommen, jenem kleinen Dorf vor den Toren der baschkirischen Hauptstadt Ufa, wo ich für ein gutes halbes Jahr meinen Dienst tun werde. Merkwürdigerweise bin ich gar nicht so erschöpft, wie es nach fünftägiger Autofahrt zu erwarten wäre, sondern fühle mich fit, um gleich am nächsten Morgen den Gottesdienst zu leiten. Die kleine Gemeinde war so dankbar, daß endlich wieder ein Pastor zu ihnen kam! Ich wurde sogleich auf das innigste in ihre Gemeinschaft einbezogen, als wäre ich schon immer dagewesen.

Ich führte die neue Gottesdienstordnung ein. Sie ist eine Wiederbelebung der alten, die noch unter dem Zaren erlassen wurde und bis 1917 Gültigkeit hatte. Nach dieser Ordnung wendet sich der Pastor bei den Gebeten zum Altar, damit er mit der Gemeinde zusammen die gleiche Blickrichtung zum Altarkreuz hat. Beim Bußgebet kniet er nieder. Die Menschen im Osten empfinden solche Traditionen als etwas Schönes und nicht als Bevormundung. Der Gottesdienst verläuft streng nach dieser Liturgie und ist zugleich sehr lebendig. Immer wieder kommt es spontan zum Zwiegespräch zwischen Pastor und Gemeinde. Das liegt daran, daß ich die Mundart der Prischiber gut verstehe. Sie ähnelt meinem nordbadischen Dialekt, in den ich während meiner Predigt gerate, wenn ich etwas besonders eindringlich erklären will. So wird der Gottesdienst zum innigen Gemeinschaftserlebnis und ist eine Erhebung der Herzen zum Herrn.

Diese herbstlichen Wochen waren etwas Besonderes, nie Dagewesenes, wie ich es auch nachher nicht mehr erlebte. Das Lebensgefühl ist hier anders als im Westen – es strömt dahin, eine unerklärliche Leichtigkeit des Seins, man reflektiert nicht, sondern lebt und nimmt die Tage, wie sie kommen und gehen. Das Gotteshaus ist eine Bauernkirche: oben die Pfarrwohnung, unten der Kirchsaal, darin ein kleiner blumengeschmückter Altar und romantische Christus-Bilder an den Wänden. Ich lud zum Erntedankfest ein. Vierzig Menschen lassen sich rufen. Kinder tragen Gedichte und Lieder vor. Eine Musikantin spielt Volksweisen auf dem Akkordeon. Wir setzen uns an gedeckte Tische und sind fröhlich. Die Schranken des Individualismus sind aufgehoben, kein Sondieren oder Abgrenzen mehr.

In Ufa gelang es mit Gottes Hilfe, die lutherische Gemeinde neu zu begründen. Den Stein ins Rollen brachte meine Ansprache bei der Weihnachtsfeier des deutschen Kulturvereins. Zur offiziellen Gründung Mitte Februar reiste extra der Propst aus Moskau an. Es war eine konzertierte Aktion, auch die Katholiken leisteten Geburtshilfe, damit wir unser früheres Kirchengebäude zurückbekommen. Jahrzehntelang war es verstaatlicht und dementsprechend heruntergekommen. Bald ist Schlüsselübergabe. Ganz zum Schluß meines Baschkirien-Einsatzes lernte ich die Land-Gemeinde von Oktjabrski kennen. Dreißig selbstbewußte Babuschkas bilden eine kompakte Einheit mit ihrem mächtigen Gesang. Sie halten an ihrer genauen Liturgie fest, und ihr Gottesdienst dauert drei Stunden. Ohne Pastor haben sie lange Jahrzehnte überlebt. Stimmungsvoll sind ihre "Gotteslieder" aus dem alten Wolga-Gesangbuch.

Es nahte das Osterfest und damit mein schwerer Abschied von Baschkirien. Bischof Springer hatte mich für eine neue Aufgabe in Südrußland vorgesehen. Mein Wechsel nach Krasnodar war turbulent und geschah mit einem weinenden, dann doch auch lachenden Auge. Ich war froh, endlich in einer warmen Gegend angelangt zu sein. So schön das Klima hier unten am Schwarzen Meer ist, so hart ist die Arbeit. Die Region erstreckt sich über Hunderte von Kilometern: im Nordwesten bis ans Asowsche Meer (Rostov am Don), im Westen bis fast an die Halbinsel Krim, im Südosten bis Pjatigorsk und Wladikawkas und bis an den höchsten Berg Europas, den Elbrus. Das ist dann schon der tiefste Kaukasus, hart an der Grenze zu Georgien und Tschetschenien. Ungefähr in der linken Mitte liegt Krasnodar, mein Dienstsitz, und in der rechten Mitte Stawropol, die politische Heimat Gorbatschows. Die südliche Grenze bildet das Schwarze Meer mit den Kurorten Anapa und Sotschi. Im Moment bin ich der einzige lutherische Pastor in diesem Territorium, und dies bedeutet viel Reisedienst. In den meisten Städten gibt es eine deutsche Kulturgemeinschaft und als Ableger davon eine Gruppe, die sich für den Glauben interessiert. Es ist immer ein großes Hallo, wenn ein deutscher Pastor auftaucht. Manchmal werde ich zwar gewarnt vor Dienstreisen in die unsicheren Gegenden, aber bis jetzt ist nichts passiert; im Zug und auf den Bahnhöfen ist russisches Militär, und man fühlt sich einigermaßen sicher.

In Krasnodar trifft sich die Gemeinde in einem Gymnasium zum Gottesdienst. Jetzt im Herbst ist die Besucherzahl wieder auf 30 bis 40 angewachsen, zum Erntedankfest sind es weit über 100. In den umliegenden Dörfern aber kommt nur noch ein gutes Dutzend Menschen zum Gottesdienst in der Bauernstube. Die alten, bibelfesten Brüder sind meist ausgereist. Wer jetzt zu uns kommt, hat ein kulturelles Interesse. Daran knüpfe ich an. Auch wenn die Menschen wenig Bibelkenntnis haben, denken sie sehr konkret nach – über Gott, über die Wunder, über das Jenseits. Vor kurzem sprachen wir darüber, dass zur Taufe der Glaube dazukommen muss (Markus 16,16). Dabei fiel auch das Stichwort "Bekehrung". Dieser Begriff wird in den westdeutschen Landeskirchen stiefmütterlich behandelt. Hier im Osten genießt er hohe Wertschätzung. Er drückt ein erstrebenswertes Ideal aus und hat keinesfalls einen eigenbrötlerischen Beigeschmack. Der typisch westliche Deismus und theologische Modernismus mit seiner abstrakten Gottesvorstellung, seiner Bibelkritik, seiner aufgeklärten Grundhaltung – das ist in den Kirchen des Ostens unbekannt und indiskutabel.

In Krasnodar gibt es viele baptistisch und charismatisch orientierte Gemeinden. Sie sind von Amerika beeinflußt. Ich habe den Eindruck, manche Freikirche erhofft sich vom Kontakt mit uns Lutheranern eine Verbesserung ihres Ansehens bei den Behörden – denn wir haben die ältere geschichtliche Legitimation. Lutheraner gibt es seit 400 Jahren in Rußland, während die meisten Freikirchen erst seit weniger als 10 Jahren im Lande sind. Dafür haben sie weitaus mehr Mitglieder als wir. Eine Zusammenarbeit wäre reizvoll, z.B. anläßlich der Allianz-Gebetswoche im Januar. Allerdings möchten meine Kirchenältesten und ich nicht allzusehr ins amerikanische Fahrwasser geraten, sondern suchen ebenso den Kontakt zur orthodoxen Kirche. Es ist nur etwas schwierig, an sie heranzukommen. In Pjatigorsk, jenem Kurort mit seinen berühmten Heilquellen, hatte ich in dieser Hinsicht einen schönen Erfolg. Der dortige Hauptpriester heißt Vater Georgij. Er ist ein weitgereister Mann und hat sogar in Regensburg studiert. Am Vorabend des russischen Pfingstfestes lud er meinen Kollegen Alfred Mütze und mich ein, am Abendgebet in der orthodoxen Kirche teilzunehmen, und zwar im vollen Ornat. Gesagt – getan. Wir betraten erwartungsvoll das mit Bildern und grünen Zweigen geschmückte Gotteshaus. Und wurden nicht enttäuscht. Es war eine gesegnete Atmosphäre. Beeindruckt hat mich die Einzelbeichte der Gläubigen. Der Reihe nach kommen sie nach vorne zum Altar, bekennen mit leisen Worten ihre Sünden und empfangen danach die Absolution, wobei ihnen Vater Georgij ein Stück seines Gewandes über den Kopf legt. Währenddessen singt der Chor. Es waltet Erhabenheit über dem ganzen Geschehen.

Zurück nach Krasnodar. Ein besonderer Lichtblick ist die Gruppe "Junge Kraft". Eigentlich eine weltliche Gründung, trifft sie sich sonntags in derselben Schule, in der wir vormittags unsere Gottesdienste abhalten. Also bleibe ich gleich da und gestalte ich für die jungen Leute eine Bibelstunde. Dienstags ist Hauskreis in meiner Wohnung mit Themen aus Bibel und Katechismus. Wir sprechen über den Sinn des Lebens, vergleichen die gegenwärtige Zeit mit der untergegangenen Sowjetzeit, diskutieren über damalige und heutige Bedingungen, unter denen ein Glaubensleben entstehen und gedeihen kann. Südrußland ist ein Gebiet, das schon zu Sowjetzeiten einen "Gulaschkommunismus" hatte, ähnlich wie Ungarn. Seit der Perestroika hat sich diese Tendenz verstärkt. Krasnodar hat breite Magistralen, einen brausenden Verkehr. Des öfteren sehne ich mich nach der Abgeschiedenheit Baschkiriens. So harmonisch wie am Anfang ist es nicht mehr. Ich hatte schon manchen Strauß auszufechten. Was in Prischib so schön war, ist in Krasnodar genau das Problem: das Verhältnis von Kirche und Kultur. In der deutschen Gruppe von Krasnodar hat sich ein eigenartiger Kulturprotestantismus herausgebildet mit einer schlichten Gleichsetzung von Christengemeinde und Bürgergemeinde. Kirchengemeinderat und Kulturgemeinderat sind fast identisch. Allerlei fremde Wünsche werden an uns als Kirche herangetragen, harmlos scheinende Gespräche entpuppen sich als harte Verhandlungen. Meine Maxime ist: Kirche muss ihre Unabhängigkeit wahren und gegen andere Interessen durchsetzen. Dies versuche ich meinen Leuten beizubringen und unsere Gemeinde missionarisch zu öffnen. Zur germanistischen und philosophischen Fakultät der Universität habe ich gute Kontakte. Zudem besucht mich nächstes Jahr ein Vollblut-Evangelist. Pastor Klaus Vollmer aus Hermannsburg wird ein besonderes Studentenprogramm durchziehen. Auch planen wir eine soziale Aktion zugunsten unserer Rentner. Diese müssen mit ganz wenig auskommen und sind dankbar für jede Unterstützung. Das ist ein kleines Pilotprojekt. Gelingt es, kann es zum Startschuß werden für größere Unternehmungen hier im nordkaukasischen Raum. Wir sind im Gespräch über den Aufbau einer heilpädagogischen Anstalt für bürgerkriegsgeschädigte Kinder.

Visionen möchte ich umsetzen, dies aber innerhalb der Koordinaten des geographischen und kulturellen Raumes tun. Spontan fällt mir der 8./9. Mai ein, der hier immer noch als Feiertag gilt. Ich besuchte einen musikalischen Abend zu dem Thema: "Liebe zu Rußland". Das Konzert war in einem Kulturpalast in unmittelbarer Nähe meiner Wohnung. Es fand sich ein Publikum ein, das ich als neuen russischen Mittelstand einstufen würde – gepflegte Kleidung, ruhiger Umgangston, in der Pause dezente Unterhaltung im Foyer. Im Saal ging es wesentlich lebhafter zu. Im Programm war keinerlei Politik oder Propaganda, obwohl an der Bühnenwand ein riesiger roter Stern prangte. Wir erlebten einen kraftvollen Auftritt der Künstler, die sich um ihre Primaballerina Raissa Gontscharowa scharten: Ballett, Solo- und Chorgesang, wilde Volkstänze, farbenfrohe Kostüme – eine Wiedergeburt des Kosakentums. Das gepflegte Publikum und die urwüchsigen Darbietungen auf der Bühne fanden auf eigenartige Weise zueinander. Es war ein geistiges Band, das alle zusammenschloß, und selbst ich als Ausländer konnte mich diesem mächtigen Gefühl kaum entziehen. Diese Art und Weise, Sinneseindrücke wahrzunehmen und zu erleben, verharrt im Konkreten, Substanziellen und abstrahiert nicht davon. Dies spielt auch in unseren Gottesdiensten eine Rolle. Nicht umsonst ist Rusßland das Land der Ikonen. Abstrakte Kunst wird nicht anerkannt. Die Menschen lieben handlungsgesättigte Erzählungen aus dem Leben, aus Natur und Geschichte. Formale Aussagen verpuffen wirkungslos. Also predige ich anschaulich. Christus vor Augen malen.Ich kann nur kurze Sätze und einfache Worte sagen. Nicht zuletzt deshalb, weil jede Predigt übersetzt werden muß.

Manchmal höre ich die resignierte Frage, ob das osteuropäische Luthertum mit der fortschreitenden Abwanderung der Rußlanddeutschen seine Geltung verlieren werde. Ich sehe das als Problem, bin aber zuversichtlich. Wir Lutheraner haben eine ökumenische Zwischenstellung, eine historische Scharnierfunktion, wie sie sonst keine andere Kirche ausfüllen kann. Das wird uns immer wieder Zulauf von Menschen – und zwar gleich welcher Nationalität – verschaffen, die gerade diese Ausformung kirchlichen Lebens suchen, wie sie sich bei uns herauskristallisiert hat. Auf der einen Seite steht die tausendjährige Traditionsmacht der Orthodoxie, ihre wundermächtigen Gesänge und Bilder, ihre Treue zur Dogmatik, ihr Festhalten an Geist und Buchstaben des klassischen Christentums. Die katholische Kirche steht diesem Konfessionstyp vergleichsweise nahe. Auf der anderen Seite sind die jungen Freikirchen. Sie missionieren in riesigen Zelten. Sie bauen enorme Gebäude von geradezu tempelartigen Ausmaßen. Tausende hören dort das Evangelium, bekehren sich und gelangen so zum neuen Leben. Das müssen wir neidlos anerkennen. Wo aber ist unser Platz als evangelisch-lutherische Gemeinde? Wir verbinden die Tradition mit der Neuzeit. Luther gilt bei russischen Intellektuellen als Freiheitsheld, der mittelalterliche Verkrustungen aufgebrochen hat. Er war sicher mehr als das, nämlich Erneuerer des Glaubens aus dem Geist der ersten Zeugen. Er hat sich eingesetzt für die Unmittelbarkeit zu Gott – erinnert sei an seine Freiheitsschrift von 1520, die vom seligen Wechsel und Tausch zwischen Christus und der Seele kündet: "Ich bin dein und du bist mein, niemand kann uns scheiden."

Wir hatten eine Seniorenfreizeit und mehrer Jugendlager am Schwarzen Meer. Aufmerksam hörten die jungen Leute zu, als ich ihnen von Himmelfahrt und Pfingsten erzählte, von der Taufe und von der Vergebung der Sünden. Ich hoffe, daß diese Eindrücke haften bleiben und Kreise ziehen.

 

Mit einigem Mut zur pathetischen Rede läßt sich Rußlands Süden auch als deutscher Schicksalsraum bezeichnen. Nicht allein Stalingrads wegen und nicht nur wegen des kaukasischen Treffens der Strickjackenmänner Kohl und Gorbatschow. Die "schöne Literatur", der man seit geraumer Zeit so gern den Vorwurf macht, sie habe den Zweiten Weltkrieg als "Stoff" ignoriert, hat tatsächlich sehr früh den schicksalhaften Kriegsommer 1942 zwischen Donez, Don und Wolga erinnerungsstiftend geformt. Das begann 1952 mit Peter Bamms "Die unsichtbare Flagge", Curt Hohoffs "Woina-Woina" und Clemens Podewils‘ "Don und Wolga" und endete – auf demselben hohen Niveau – mit den im September (!) 1989 auszugsweise in der Etappe publizierten Reflexionen Roman Schnurs, des Tübinger Staatsrechtlers, der spielerisch die "deutsche Seiten" in der Geschichte des Nordkaukasus aufschlug: Von den 500 schwäbischen Kolonisten, die 1817 nach Georgien zogen, bis zur württembergischen 23. Panzerdivision, die 1942 mithelfen sollte, in den Unterleib des britischen Imperiums vorzustoßen, und die doch nur ins Kurgebiet von Piatigorsk kam – "in ein Gefilde des ewigen Frühlings", wie es schien. Eben dort, wo Gottfried Spieth als Pfarrvikar der evangelischen Landeskirche Badens heute tätig ist. Seit 1999 arbeitet er als Pfarrer für die "Evangelisch-Lutherische Kirche in Rußland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien" (ELKRAS), unter der Leitung von Erzbischof Prof. Dr. Georg Kretschmar mit Sitz in St. Petersburg. Die ELKRAS hat ungefähr eine halbe Million Gläubige (vorwiegend Rußlanddeutsche). Als flächenmäßig größte lutherische Kirche der Welt ist sie in acht Eparchien gegliedert, eine davon ist die "Eparchie des Europäischen Rußland" unter der Leitung von Bischof Siegfried Springer mit Sitz in Moskau. Die ELKRAS steht in der Rechtsnachfolge der alten lutherischen Kirche des Zarenreichs. Gottfried Spieths Dienst in Baschkirien und im Nordkaukasus wird durch eine Mischfinanzierung ermöglicht, an der sich die Badische Landeskirche, die EKD, der Martin-Luther-Bund (Erlangen) und vor allem der "Freundeskreis für kirchliche Arbeit in Krasnodar" (ev. Pfarrgemeinde Waldstadt-Nord in Karlsruhe) beteiligen. Kontaktadressen: waldstadt-nord@t-online.de  oder gottfried_spieth@mail.ru 


 
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