© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/00 20. Oktober 2000


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Klimawechsel
Karl Heinzen

Heike Valler, 35, hat ihre Chance genutzt. Früher war sie Friseuse und lebte in Spanien. Heute darf sie wieder in Deutschland wohnen und als Busfahrerin arbeiten. Manchmal nimmt sie ihr Kind auf Fahrten mit und zeigt ihm, wie sie in der Welt herumkommt. Als alleinerziehende Mutter ist sie der Sozialen Marktwirtschaft dankbar, daß sie von eigener Hände Arbeit leben darf.

Was hat sie so erfolgreich gemacht? Dieser Frage geht sie in einem TV-Spot der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" nach. Andere Spots mit anderen Menschen, die ebenfalls "ihre Chance eindrucksvoll ergriffen haben", komplettieren das Bild. "Unsere Wirtschaft wird von all denjenigen gestaltet, die tagtäglich ihrer Beschäftigung nachgehen." Wer wenig verdient, muß sich nicht für seine Leistung schämen. Auch wenn nur wenige zu Wohlstand gelangen, so haben sie ihn doch sehr vielen zu verdanken. Wer an sich selbst arbeitet, wird auch für andere gut arbeiten. Das Übermaß an Sekundärtugenden, die über jede Eigentumsordnung hinwegsehen lassen, stimmt optimistisch und hat ein Dankeschön wie die Kampagne dieser ansonsten von parteiübergreifender Prominenz repräsentierten Initiative verdient.

Es fördert ohne Zweifel das Betriebsklima im "Unternehmen Deutschland", wenn viele Menschen das Gefühl haben, daß ihnen eigentlich alle Wege offenstehen und es nicht die Schuld unserer Wirtschaftsordnung ist, wenn sie ihnen dennoch versperrt bleiben. Es schadet auch nichts, wenn die Möglichkeit einer Selbstverwirklichung im Erwerbsleben, die am eigenen Arbeitsplatz in der Regel nicht erkannt werden kann, durch Vorbilder, die in den Medien nahegebracht werden, bewußt wird. Über solchen Beeinflussungen des Stimmungsbarometers darf aber nicht vergessen werden, daß eigentlich ein fundamentaler "gesellschaftlicher Klimawechsel in Deutschland" notwendig ist: Diejenigen, die arbeiten, müssen sich ändern, damit unser Land für jene, die arbeiten lassen, attraktiv bleibt.

Da nach mehr als einem halben Jahrhundert die Motivation der Sozialen Marktwirtschaft kaum noch nachvollziehbar ist, will es sich die unter dem Vorsitz des ehemaligen Bundesbank-Präsidenten Hans Tietmeyer stehende Initiative nicht nehmen lassen, an diese Tradition anzuknüpfen. Dies ist insofern legitim, als tatsächlich die Kontinuität in den Eigentumsverhältnissen angestrebt wird. "Neu" ist an dieser Auffassung von Sozialer Marktwirtschaft, daß der internationale Wettbewerb und der demographische Wandel in Deutschland dem Staat kaum noch Platz für seinen altver- trauten Ordnungsrahmen einräumen, er also um so mehr seiner so- zialpolitischen Verantwortung gerecht wird, je weniger Aufgaben er hier übernimmt. Wirklich sozial ist nur der Markt, indem er die Menschen durch die von ihm erzeugte Unsicherheit zur Leistung motiviert. Neu ist diese Idee nicht. Neu ist nur der Mut, sie nach fast zweihundert Jahren wieder so offen zu propagieren.


 
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